Lena Christ - die Glueckssucherin
ungeeignet. Auf eine Konfrontation sollte man es dennoch besser nicht ankommen lassen, denn sie waren mächtiger und stärker. Also galt es, Strategien zu entwickeln, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Wie Leni zu dieser Haltung gekommen ist, wird nicht erzählt, doch in manchen Episoden gleicht sie Agota Kristofs Zwillingspaar, das sich selbst körperlich und seelisch abgehärtet hat: Auf die Frage der Großmutter, wer sie geschlagen habe, antworten die Zwillinge:
»Wir selber, Großmutter.
– Ihr habt euch geprügelt? Weswegen?
– Wegen nichts, Großmutter. Machen Sie sich keine Sorgen, es ist nur eine Übung.«
Sie steigern ihre gegenseitigen Schläge und fordern sogar die Großmutter zu Züchtigungen auf. Irgendwann haben sie den Status erreicht, den sie angestrebt hatten:
»Nach einiger Zeit spüren wir tatsächlich nichts mehr. Es ist jemand anderes, der Schmerzen hat, es ist jemand anderes, der sich verbrennt, sich schneidet, leidet. Wir weinen nicht mehr.«
Die Lebensphase, in der eine ähnlich konsequente Desensibilisierung notwendig sein würde, stand Lena noch bevor. Sie war damals nicht nur das muntere, stets zu Streichen aufgelegte, laute und freche Mädchen. So gern sie mit den anderen Kindern des Dorfes herumtollte, manchmal war sie auch lieber allein, lag im Gras und träumte, stöberte in der Künikammer herum oder erfand Spiele. Die fehlenden Spielkameraden ersetzte sie dann durch selbst gebastelte: Sie füllte Säcke mit Lumpen und Stoffresten, formte einen Kopf und steckte die Puppe auf einen Holzscheit. Dann gab sie ihren »Flecklpuppen« Namen, erfand eine eigene Familie mit Kostkindern und dachte sich Geschichten aus. Langeweile kannte sie nicht.
Sie liebte feierliche Veranstaltungen und große Inszenierungen. Die kirchlichen Rituale beeindruckten sie sehr, besonders das Memento, das Hochamt, die Predigten, die Gebete, die Prozessionen. Am Sonntag ging der Pfarrer nach seiner Predigt und den Gebeten auf den Friedhof, den Gottesacker hinaus, gefolgt von den Gemeindemitgliedern. Nachdem sie die Gräber ihrer Angehörigen mit Weihwasser besprengt hatten, beteten sie am Grab. »Während der feierlichen Handlung stand ich zwischen den Großeltern und fürchtete mich vor dem Tod«, heißt es in den Erinnerungen . Doch während man dem beeindruckenden Bild des sechsjährigen Kindes nachspürt, das sich, beschützt von den geliebten Großeltern, ganz seiner Angst vor dem Tod hingibt, wird man von der Autorin im nächsten Satz schon wieder in die Lausdirndl-Realität zurückgeholt. Nur an den Sonntagen habe sie sich dieser Furcht hingegeben, lässt sie ihr Alter Ego sagen, die ganze Woche über habe sie nichts dergleichen verspürt. Im Gegenteil, sie musste auf dem Friedhof Aufgaben erfüllen, die sie sich selbst gestellt hatte: Sie richtete »die Gräber der armen Leute wieder her«, indem sie »die Blumen von den Gräbern der Reichen nahm«. Danach ging sie in die Kirche, wusch sich im Weihwasser die Hände, räumte die Gebetbücher zusammen, nahm die Heiligenbilder, die sie fand, an sich und verteilte sie an ihre Klassenkameraden.
Das Ende der glücklichen unbändigen Lausdirndlzeit kam sehr plötzlich, so wie sie es in ihrer Lausdirndlgeschichte Das Femgericht erzählt:
»Jetzt ist es aus und vorbei.
Am Sonntag muss ich wieder nach München.«
Der erste Satz gleicht einer Kapitulation. Doch noch konnte Lena gar nicht wissen, was ihr bevorstand, als ihr die Großeltern eröffneten, ihre Mutter habe in München geheiratet. Sie spürte nur, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, denn beim Abendessen mit den Großeltern und der Tante herrschte eine gedrückte Stimmung. Plötzlich schlug der Großvater mit der Faust auf den Tisch und rief. »S’Lenei soll i eahna eini bringa; sie verlangts!« Lena weigerte sich auf der Stelle, sie wollte nicht in die Stadt zu ihrer Mutter, vor allem wollte sie nicht weg von ihren Großeltern. Während ihr die Tante gut zuredete und in Aussicht stellte, sie könne in der Stadt »was Feins werdn«, befürchtete die Großmutter, dass das Kind dort verdorben werden könnte. Für sie war die Stadt unübersichtlich, unergründlich und gefährlich. Nur der Großvater schwieg, bis er schließlich sagte. »In Gott’s Nam’, müaß’ ma’s halt hergebn.« Damit war das letzte Wort gesprochen, und Lenas Proteste – Toben, Bitten, Schmeicheln – blieben allesamt erfolglos.
Nun begann die Phase der Vorbereitungen: Lena erhielt eine städtische Garderobe.
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