Lena Christ - die Glueckssucherin
Trinkhorn, das er aus der Gaststube entwendet hatte, für ein angemessenes Blasinstrument gesorgt. Singend zogen sie die Eichenallee hinauf. An ihrem Ziel angekommen, entschieden sie, wer der Verbrecher und wer die Richter sein sollten. Weil es für die Rolle des Verbrechers mehrere lautstarke Bewerber gab, wäre es beinahe zu einer Rauferei gekommen. Gerade noch rechtzeitig wurde der Ropfergirgl ausgewählt. Leni wollte unbedingt der Henker sein und drapierte ihr Seil am Ast eines Baumes. Der Gschwandlerfranzl führte mithilfe des Legendenbuchs die Gerichtsverhandlung. Der Verbrecher wurde unter lautem Getrommel und Gebrüll zum Tode verurteilt. Allmählich wurde es dem Ropfergirgl zu viel und er wollte aussteigen, doch es war zu spät. Sie banden ihm das Seil um den Bauch, zogen ihn mit vereinten Kräften in die Höhe und befestigten das Ende des Stricks. Bevor sie mit ihrem Ritual fortfahren konnten, erblickte einer von ihnen den herannahenden Pfarrer. Das war das Signal, unverzüglich zu verschwinden. Es war keine Zeit mehr, den Ropfergirgl aus seiner misslichen Lage zu befreien. Ein kindliches Spiel, das katastrophal hätte enden können, wenn nicht das Auftauchen eines Erwachsenen dem Spektakel ein Ende bereitet hätte.
Makabre Spiele, mit denen sich die Kinder neben den Erwachsenen behaupten wollen, schildert auch Lena Christs Zeitgenossin Franziska zu Reventlow in ihrem autobiografischen Roman Ellen Olestjerne . Die Kinder gründeten ihr eigenes Königreich – als Gegenentwurf zum Nachbarreich, in dem Franziskas Mutter ein autoritäres Regiment führte. Die »grimme Fürstin«, ihre Feindin, wollten sie entmachten. An einem ausgewählten Platz im Schlosspark errichteten sie Hütten aus Pfählen, Zweigen und Moos und legten Straßen an. Den Mittelpunkt bildete eine Kultstätte, auf der ein Tempel aus Brettern und Backsteinen thronte. Er wurde bewacht von einem Götzen aus Holz, den sie selbst geschnitzt hatten und dem sie mit Opfern, wilden Gesängen und Tänzen huldigten. Wenn fremde Kinder aus dem Dorf in die Koppel einbrachen, wurden sie eingefangen und streng bestraft: mit verbundenen Augen einen Hügel hinuntergerollt oder in einen Brennnesselbusch geworfen. Doch das Königreich im Schlosspark, in dem Fantasie und Eigensinn regierten, war dem Untergang geweiht. Die Rädelsführerin, Franziska zu Reventlows Alter Ego, sollte eine standesgemäße Mädchenerziehung erhalten. »Die Kinder gingen nur noch engumschlungen und waren traurig – ihnen war zumute, als ob eines von ihnen sterben sollte«, heißt es im Roman.
Als die nicht immer harmlos-fröhliche Lausdirndlzeit Lenis zu enden drohte, waren ihre Spielkameraden traurig und bedrückt:
»Meine Freunde haben gesagt, dass es schad ist, wenn ich wieder in die Stadt komme, weil es dann gar nichts mehr gibt.
Und sie tun alles, was ich sage; und damals, im Winter, wo wir vom Schlossberg heruntergerodelt sind, haben sie gesagt: ›Handschusterleni!
Fahr du voraus!‹
Dann bin ich vorausgefahren, über den Berg hinunter und hinein in den zugefrorenen Moorbach.
Und sie sind alle nachgesaust.
Aber auf einmal hat es gekracht, und drei sind im Wasser gelegen; und sie sind ganz voll Schlamm gewesen, und der Ropfergirgl hätte bald ersaufen müssen; aber wir haben ihn schon noch herausgezogen.
Und dann hätten sie mich verprügeln wollen; aber ich bin nicht so dumm und bleibe stehn.«
Leni hatte nicht nur keine Angst von Prügeln, sondern provozierte sie sogar. In Die Frau Bas , einer weiteren Lausdirndlgeschichte, heißt es:
»Die Frau Bas hat gesagt, dass ich eine Malefizkarbatschen bin, und sie hat mir ein paar hineingehaut wegen dem Honig.
Aber das macht nichts.
Sie hat es nicht umsonst getan.«
Lenis Repertoire an Streichen war unerschöpflich. Das hatte Folgen:
»Aber die Frau Bas hat doch furchtbar geschimpft und hat gesagt, dass ich ein gottloser Lausfratz bin, und dass es jetzt nicht mehr wunderbar ist. Und wie der Großvater nicht mehr in der Stube war, hat sie mich bei den Haaren geschüppelt.
Aber es hat nicht weh getan.
Und ich weiß schon wieder was, wenn sie mich noch einmal schüppelt.«
Die Protagonistin der Lausdirndlgeschichten hat gelernt, sich mit List und Galgenhumor gegen die Lieblosigkeit und Gewalttätigkeit der Erwachsenen zu wehren. Sie hat deren Schwächen früh erkannt: Auch die Erwachsenen sagten nicht immer die Wahrheit und verhielten sich nicht so, wie sie es von den Kindern verlangten. Als Vorbild waren die meisten
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