Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lena Christ - die Glueckssucherin

Lena Christ - die Glueckssucherin

Titel: Lena Christ - die Glueckssucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunna Wendt
Vom Netzwerk:
Das, was sie später einmal genießen würde, von der Schneiderin neu eingekleidet zu werden, empfand sie als Belastung: »Ich wurde mit Stoffen behängt und mit Nadeln besteckt und musste den ganzen Tag stillstehen.« Am Tag der Abreise überwog bei Lena die Spannung. Sie wurde gebadet, fein angezogen und frisiert. Die Großmutter »steckte in das in zwei Zöpfen aufgemachte Haar einen silbernen Pfeil« und weinte, als sie ihrer Enkelin den großen schwarzen »Strohhut mit den roten Blumen und den karierten Bändern« aufsetzte. Lena ging mit dem Großvater zur Haltestelle des Postwagens und verabschiedete sich von allen Leuten, die ihr begegneten. Während der Fahrt nach München erklärte ihr der Großvater, wie sie sich in der Großstadt zu benehmen habe. Er appellierte an ihre Klugheit und hielt sie an, ihrer Mutter zu gehorchen und den Vater – ihren Stiefvater – gern zu haben. Außerdem werde sie den Eltern bestimmt im Haushalt helfen müssen. Wahrscheinlich ahnte er, der seine Tochter gut kannte, dass diese ihr Kind nicht aus reiner Mutterliebe zu sich nehmen wollte, sondern vor allem, weil sie eine Hilfskraft brauchte – in der Gastwirtschaft, die sie sich zusammen mit ihrem Ehemann gekauft hatte, und zu Hause. Der Großvater erteilte seiner Enkelin auf der Reise in die Stadt auch einen Schnellkurs in Hochdeutsch. »Jatz derf ma nimma Kuchei sagn, jatz hoaßts Küch, und statt der Stubn sagt ma Zimmer und statt’n Flöz sagt ma Hausgang. Und Kihrwisch sagt ma aa nimma, sondern Kehrbesen.« Lena versuchte, sich alles zu merken.
    Der Empfang der Mutter am Ostbahnhof war freundlich. Als Lena sie – wie sie es gerade vom Großvater gelernt hatte – mit den Worten »Grüß Gott, Mutter!« begrüßte, war jene beeindruckt: »Schau, schau, wie gebildet die Leni schon wordn ist. Da wird aber der Vater viel Freud haben, wenn er so ein g’scheits und vornehmes Töchterl kriegt.« Damals wusste Lena noch nicht, dass so freundliche Worte aus dem Munde der Mutter eine Rarität waren. Die Mutter nahm sie bei der Hand, der Großvater ging hinterher und versuchte, seine Traurigkeit zu verbergen. Mit der Pferdebahn fuhren sie durch die Stadt zum Marienplatz, und Lena kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Die Häuser und Kirchen waren hoch, ragten in den Himmel, die Röcke und Hosen der Kinder waren kurz und sahen ganz anders aus als die Kleider, die sie aus Glonn kannte. Vom Fischbrunnen vor dem Rathaus war Lena so fasziniert, dass sie vergaß, ihre Begeisterung ins Hochdeutsche zu übersetzen: »Großvatta, do schaug hera, wie dö Fisch’s Mäu aufreißn!« Die Mutter war entsetzt, der Großvater versuchte, Schlimmeres zu verhindern, und forderte Lena zum Schweigen auf. Außerdem belehrte er sie: »Mäu derf ma jatz nimma sagn, Mund hoaßt’s do jatz!« Es ging eine Weile gut, doch als Lena vor der Residenz die Soldaten sah, die gerade im Stechschritt aufmarschierten, konnte sie sich nicht zurückhalten und rief. »Dö gengan ja grad wia meine hülzern’ Mandln, dö wo …« Nun wurde sie von der Mutter gestoppt, sie möge doch um Gottes willen bloß still sein, denn das sei ja Majestätsbeleidigung. Genau so schnell, wie sie die Anerkennung ihrer Mutter gewonnen hatte, war diese wieder verloren, mehr noch, die Mutter schämte sich für ihr Kind, dem man ansah und vor allem anhörte, dass es vom Land kam.
    Nach einem längeren Fußmarsch nach Schwabing standen die drei »vor einem hohen Hause, auf dessen rötlicher Fassade mit großen Buchstaben das Wort ›Restaurant‹ geschrieben stand«. Dort wurden sie von Josef Isaak »mit herzlichen und guten Worten« empfangen. Dieser Tag im November 1888 war für das kleine Mädchen in vielfacher Hinsicht aufregend und irritierend: die große Stadt mit den ihr fremden Bauwerken, ein fremder Mann, der nun die Rolle ihres Vaters einnehmen würde, eine letztlich ebenso fremde Frau, die ihre Mutter war und ihr sogleich vorführte, wie der Alltag aussehen würde. Es war Mittag und die Gaststätte gut besucht, sodass die Köchin nach Hilfe verlangte. Die Mutter zog sich rasch um und nahm ihre Arbeit auf. Lena war eingeschüchtert angesichts der demonstrativen Geschäftigkeit. Als die Mittagszeit vorbei war, bekamen auch Lena und der Großvater etwas zu essen. Der neue Vater setzte sich zu ihnen und begann mit dem Großvater ein angeregtes Gespräch über das Leben in Glonn. Besonders interessierte ihn allerdings alles, was Lena betraf.
    Josef Isaak war Lena von Anfang an

Weitere Kostenlose Bücher