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Lena Christ - die Glueckssucherin

Lena Christ - die Glueckssucherin

Titel: Lena Christ - die Glueckssucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunna Wendt
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der Erklärung, die Mutter habe sie das Lied gelehrt. Der Großvater fasste sich wieder und strich ihr beruhigend übers Haar. Am Abend in der Schlafkammer klagte ihm Lena ihr Leid, und bat ihn, sie wieder mit zur Großmutter ins Hansschusterhaus zu nehmen. Doch es war vergeblich. Als er am nächsten Tag im Begriff war, am Ostbahnhof in den Zug zu steigen, der ihn zurück nach Glonn bringen sollte, wollte sie ihn nicht fortlassen. Zunächst klammerte sie sich an ihn; nachdem er sich losgemacht hatte und eingestiegen war, sprang sie aufs Trittbrett und hielt sich so fest, dass die Mutter all ihre Kräfte aufwenden musste, um sie vom fahrenden Zug herunterzuholen. Die Strafe blieb nicht aus: Die Mutter verprügelte das ungehorsame Kind. Für diese erste Züchtigung, von der die Autorin in ihren Erinnerungen berichtet, äußert sie gleichzeitig Verständnis. Es wird Wut, aber auch Angst gewesen sein, was die Mutter dazu brachte. Die fürchterliche Zeit, in der regelrechte Prügelorgien von der Mutter veranstaltet wurden, begann erst später.
    So schien das Leben zunächst noch in Ordnung. Das Restaurant florierte, was in erster Linie dem Fleiß und der Beliebtheit Josef Isaaks zu verdanken war. Im Mai 1889 verkaufte er die Wirtschaft und machte zusammen mit seiner Frau zwei Monate Urlaub. Sie holten ihre Hochzeitsreise nach und fuhren in die Schlierseer Berge. Lena blieb in München, wo sie von der Schwester ihres Stiefvaters, die sie Tante nannte, beaufsichtigt wurde. Diese führte den Haushalt und verbrachte die übrige Zeit in der Kirche. »Sie wollte mich auch zu einer so heiligen Person machen, wie sie war«, charakterisiert Lena Christ ihr Verhalten. Doch das Kind erwies sich als störrisch, »mürrisch und ungut«, woran auch die Ermahnungen des Pfarrers und anderer Geistlicher, die die Tante hinzuzog, nichts änderten.
    Gleich nach Rückkehr des Ehepaars begann die Mutter krank zu werden. Sie blieb oft morgens im Bett liegen, fühlte sich unwohl, »musste sich häufig erbrechen und wurde doch von Tag zu Tag dicker«. Lena Christ schildert die Schwangerschaft aus der Perspektive des unbedarften Mädchens, das sich über die Vorgänge im Haus wunderte: Der Mutter schien es sehr schlecht zu gehen, gleichzeitig nähte die Tante kleine Hemden und Windeln, und der Stiefvater plante den Umzug und die Eröffnung einer neuen Gastwirtschaft im Gärtnerplatzviertel. In den Erinnerungen verlegt die Autorin die Gaststätte von ihrem tatsächlichen Platz in der Buttermelcherstraße in die Corneliusstraße. Auch den Namen des Stiefvaters hat sie verändert: Aus Josef Isaak ist in ihrem Buch Josef Zirngibl geworden.
    Es war ein unruhiges Leben, das Lena Christ von Beginn an in München führte: von der Adalbertstraße über die nahe Schraudolphstraße weiter südlich, in die Glückstraße und die Buttermelcherstraße – innerhalb von zwei Jahren. Vermutlich waren auch Schulwechsel damit verbunden, sodass sie in diesem Bereich keine Stabilität erlangen konnte – von Freundschaften mit Gleichaltrigen ganz zu schweigen. Die Freiheit, Ausgelassenheit und Unbekümmertheit, die sie als Lausdirndl in Glonn genossen hatte, basierten vor allem auf einem sicheren Zuhause. Nun zogen die Eltern ständig um. Ihr Ziel war es, möglichst viel Geld zu verdienen und immer größere und erfolgreichere Gaststätten zu führen. Natürlich wurde diesem Ziel alles andere untergeordnet. Lenas Rolle war klar: Sie hatte mitzuhelfen und fungierte als vielseitig einsetzbare Arbeitskraft. Doch dabei blieb es nicht: In der neuen Gastwirtschaft im Gärtnerplatzviertel stand die Tante als Haushälterin nicht mehr zur Verfügung, da sie eine Stelle bei einem »geistlichen Herrn« angenommen hatte. Daher entschied die Mutter, Lena sei mit ihren neun Jahren alt genug, diese Aufgabe zu übernehmen. Was dazu gehörte, zählt Lena Christ in den Erinnerungen auf: »In aller Frühe musste ich zuerst das Fleisch austragen, dann Feuer machen, Stiefel putzen, Stiegen wischen und der Mutter die Sachen einholen, die sie zum Kochen brauchte.« Da die Mutter morgens nicht aufstand, fiel das Frühstück meistens aus, und Lena ging hungrig in die Schule.
    Noch härter wurde es, nachdem ihr Halbbruder Josef im Februar 1891 geboren wurde: »Nun hieß es um fünf Uhr aufstehen und zu den übrigen Arbeiten noch das Bad, Wäsche und Windeln herrichten.« Dankbarkeit erntete sie nicht für ihren Fleiß, im Gegenteil: Wenn sie aus der Schule kam, wurde sie von ihrer Mutter schon

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