Lena Christ - die Glueckssucherin
der die Mutter einige Jahre als Köchin gearbeitet hatte. Wie immer war es eine große Bestellung, diesmal im Wert von ungefähr zwanzig Mark. Das entsprach damals etwa dem Monatslohn eines Hausmädchens. Auf dem Rückweg kam Lena an der Feldherrnhalle vorbei und schaute anderen Kindern beim Taubenfüttern zu. Als es vier Uhr schlug, fiel ihr ein, dass sie um diese Zeit längst zu Hause sein sollte. Also lief sie los. Am Viktualienmarkt verschnaufte sie und machte eine furchtbare Entdeckung: Das Geld war weg. Verzweifelt lief sie zurück, fragte zuerst bei der Köchin des Kommerzienrats nach und dann bei den Leuten, die an der Feldherrnhalle standen: vergebens. Mittlerweile hatte sich die Angst zu Panik gesteigert. Sie wusste nur eins: Sie konnte ihrer Mutter nicht ohne das Geld unter die Augen treten. Sie lief immer weiter, bis zum Ostbahnhof. Da fiel ihr der Mensch ein, der für sie gleichbedeutend mit Liebe, Trost und Verständnis war: der Großvater! Damit stand für sie fest, was zu tun war: »Jatz laafst zum Großvater, der hilft dir schon.«
Sie lief zu dem Bahngleis, von dem er damals abgereist war, und auf dem Bahndamm die Schienen entlang immer weiter. Wenn Züge kamen, sprang sie zur Seite. Sie rannte um ihr Leben. In Zorneding war sie so erschöpft, dass sie ausruhen musste. Ihr Herz klopfte, und sie verspürte schmerzhaftes Seitenstechen. Als sie an einem Brunnen Wasser trinken wollte, wurde sie von einer Dorfbewohnerin zurückgehalten. Diese fürchtete, das erhitzte und überanstrengte Kind würde das kalte Wasser nicht vertragen. Erst als sich die Kleine etwas abgekühlt hatte, erlaubte sie ihr zu trinken. Laut Lena Christs Schilderung war das jedoch das Einzige, was diese Frau für sie tat. Obwohl es mittlerweile dunkel geworden war, bot sie ihr keinen Schlafplatz an, sondern ließ sie gehen.
Die Autorin berichtet, sie habe auf einer Bank übernachtet und den Korb, den sie bei sich trug, als Kopfkissen benutzt. In der Nacht wurde sie von bösen Träumen heimgesucht. Am nächsten Morgen, nachdem sie zerschlagen aufgewacht war, wurde sie von der Frau, vor deren Haus die Bank stand, angesprochen. Diese fühlte sich sofort verantwortlich für die Kleine, tröstete sie und riet ihr, wieder nach Haus zu ihren Eltern zu fahren. Dann holte sie ihren Mann, und er begleitete Lena im Zug zurück nach München. Nach diesem Fluchtversuch wurde sie von ihrer Mutter nicht geschlagen, sondern einfach ignoriert: Sie redete »mich mit keinem Worte an und tat, als sei ich gar nicht da«.
Eine subtile Strafe, die eine Wirkung erzielte: Lena bekam noch am selben Abend so hohes Fieber, dass der Stiefvater einen Arzt holte. Er war es auch, der sie in den kommenden Wochen pflegte. Als der Großvater von ihrer schweren Lungenentzündung erfuhr, besuchte er sie. Es tat ihr gut, dass endlich der Mensch wieder bei ihr war, den sie am meisten herbeigesehnt hatte. Sie vertraute sich ihm an und klagte ihm ihr ganzes Leid. Er konnte es kaum fassen, als er erfuhr, wie sich seine Tochter ihrem Kind gegenüber verhielt. Beinahe geriet er in Rage und wollte sie zur Rede stellen, doch Lena hinderte ihn daran. Sie wusste, was dann geschehen würde. Die Mutter würde zornig werden und die Wut an ihr auslassen. Stattdessen verabredete sie mit dem Großvater etwas anderes: Er versprach ihr, sie dürfe wieder nach Glonn kommen, wenn sie erneut misshandelt würde. Ein Versprechen, das ihr Sicherheit gab. Zwei Jahre später wurde es eingelöst.
Diesmal waren auch andere Kinder an dem »Vergehen« beteiligt, das ihr zum Verhängnis wurde. Die mittlerweile elfjährige Lena hatte mit zwei Mädchen Freundschaft geschlossen, die im selben Haus wohnten. Sie trafen sich an Sonntagnachmittagen, wenn die Eltern fort waren, und nutzten diese Gelegenheit, um »Heimliches« zu treiben. In ihren Erinnerungen führt die Autorin das nicht weiter aus, doch sie nennt ihren Beichtvater und Religionslehrer als den eigentlichen Initiator. Erst durch seine Fragen sei sie überhaupt auf manche Dinge gekommen. Er habe sie dazu verführt. Zu seinen Fragen zählten die nach »unkeuschen Gedanken«. Er wollte es ganz genau wissen: »Wie oft, wann, wo, über was hast du nachgedacht? Hast du da an unzüchtige Bilder oder an Unreines am Menschen oder an Tieren, an gewisse Körperteile gedacht?« Seine Ausführungen verstörten sie: »Ist dir niemals die Lust angekommen, einen unreinen Körperteil an dir zu berühren? Hast du das mit dem Finger, mit der Hand oder mit
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