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Lena Christ - die Glueckssucherin

Lena Christ - die Glueckssucherin

Titel: Lena Christ - die Glueckssucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunna Wendt
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mit Schlägen empfangen. Oft traf sie nämlich erst viel später als erwartet zu Hause ein, denn sie musste nachsitzen, weil sie morgens nicht pünktlich zum Unterricht erschienen war. Ein Teufelskreis, den sie nicht zu durchbrechen vermochte, und niemand anders hatte ein Interesse daran, sie daraus zu befreien. Am allerwenigsten die Mutter, denn sie profitierte von dieser Ausbeutung und konnte sich dazu noch einreden, es sei gut für die Zukunft des Mädchens, Haushaltsführung zu lernen.
    Neben der vielen Arbeit war es vor allem die Gleichgültigkeit, unter der Lena litt. Wenn man ihr Aufmerksamkeit schenkte, dann in ihrer Funktion als Hausmädchen. Und da sie für all die Tätigkeiten, die dazugehörten, zu klein war, hieß Beachtung so viel wie Bestrafung. Ein Mädchen in ihrem Alter konnte das einfach nicht schaffen: »Vor dem Essen musste ich noch den Laden und das Schlachthaus putzen und das Nötige einkaufen.« Und nach dem Essen ging es weiter mit Geschirrspülen, Waschen und Kind beaufsichtigen. Irgendetwas machte sie immer falsch und oft war sie einfach nur erschöpft. Sie berichtet, wie sie einmal beim Tischgebet aus dem Fenster schaute statt auf das Kruzifix und von der Mutter einen so festen Schlag ins Gesicht erhielt, dass ihr das Blut aus Mund und Nase lief. Doch damit nicht genug: Sie bekam nichts zu essen und musste während der Mahlzeit auf dem Boden knien. Ihre Müdigkeit wurde ihr auch in der Schule zum Verhängnis. Während des Handarbeitsunterrichts am Nachmittag konnte sie sich nicht konzentrieren und bekam ein »Ungenügend« als Note. Mit dem Stricken hatte sie Probleme, es verursachte ihr Kopfschmerzen. Diese Schwäche nutzte die Mutter aus, um sich eine besonders perfide Strafe auszudenken: »Hatte ich nun bei der Hausarbeit etwas nicht recht gemacht, so gab sie mir mit einem spanischen Rohr sechs und manchmal zehn Hiebe auf die Arme und die Innenfläche der Hände, dass das Blut hervorquoll.« Dann musste sie mit ihren verletzten Händen an einem Strumpf stricken.
    Es mutet zynisch an, dass im Fin de Siècle spezifisch weibliche Fertigkeiten, deren Erlernen zur Mädchenerziehung gehörte, als Strafen eingesetzt wurden. Franziska zu Reventlow erzählt von dem Hausunterricht, den die Mutter ihr erteilte: Das eigentlich Quälende war nicht der Stoff – Lesen, Schreiben, Rechnen –, sondern die Strickarbeit: jener »Strumpf, der nie ein Ende nahm und auf den viele, viele Tränen hinunterliefen«, wenn die ungehorsame Schülerin zur Strafe das Strickzeug in die Hand nehmen musste.
    Körperliche Züchtigungen waren Ende des 19. Jahrhunderts in allen Gesellschaftsschichten üblich. In Ellen Olestjerne heißt es: »Mama und Prügel kriegen waren so ziemlich die ersten Begriffe, die ihr Bewusstsein zu fassen vermochte und die für sie in eins zusammenfielen.« Die Strafen, die sich Lena Christs Mutter für ihre Tochter ausdachte, zeugen allerdings von einem ausgeprägten Sadismus. Von schweren Gewaltausbrüchen, Schlägen mit dem Ochsenfiesel ist die Rede, weiters davon, dass sie nichts zu essen bekam und die ganze Nacht auf einem Holzscheit kniend draußen auf dem Flur zubringen musste. Wenn ihr jemand zu Hilfe kam – ihre Lehrerin, die die Verletzungen bemerkte, oder die Nachbarin, der das Kind leidtat – und die Mutter zur Rede stellte, so zog das nur noch weitere Strafen nach sich. An manchen Tagen habe sie sich vor Schmerzen kaum bewegen können, berichtet die Autorin, Liebe und Zärtlichkeit habe sie nie erfahren.
    Doch Lena fand einen Ausgleich für das freudlose Leben zu Hause in der Schule. Sie machte »gute Fortschritte und war bald die Erste«. Während ihre Halbbrüder später auf höhere Schulen geschickt wurden, hielt die Mutter das bei ihrer Tochter nicht für angebracht. Nach der Grundschule besuchte Lena die Mittwochsschule, an der die Anforderungen nicht hoch waren. Ihre Mitschülerinnen waren Dienstmädchen und Kinder aus armen Familien. Lena wurde innerhalb kürzester Zeit Klassenbeste und galt als wissbegieriges »Gscheiterl«. Sie setzte ihre Intelligenz jetzt gezielt dazu ein, den mütterlichen Strafen zu entgehen und sich heimlich das zu verschaffen, was ihr vorenthalten wurde. Das war vor allem etwas zu essen. Von den Trinkgeldern, die sie beim Fleischaustragen erhielt, kaufte sie sich Brot. Natürlich wurde sie schwer bestraft, als die Mutter dahinterkam.
    An einem Samstagnachmittag geriet sie in große Not: Sie lieferte Fleisch an die Familie des Kommerzienrats, bei

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