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Lena Christ - die Glueckssucherin

Lena Christ - die Glueckssucherin

Titel: Lena Christ - die Glueckssucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunna Wendt
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Brutalitäten« machte Lena allerdings nur noch mehr Angst. Als sie am nächsten Tag auf dem Münchner Bahnhof ankam, traf sie zufällig einen Nachbarn, der ihr sogleich riet, nach Hause zu gehen, weil die Mutter voller Wut und Aufregung nach ihr suchen lasse. »Die ganze Nachbarschaft hetzt s’ über di auf und sagt dir alles Schlechte nach.« Der Nachbar begleitete sie zur Polizei, der Polizeiarzt überwies sie in eine Klinik, nicht nur wegen ihrer Diphtherie. Er hatte sie untersucht und die Spuren der mütterlichen Gewaltexzesse an ihrem Körper gesehen. Damit wurde die Misshandlung erstmalig aktenkundig.
    Lena Christ berichtet in ihren Erinnerungen , sie sei in das Krankenhaus in der Nussbaumstraße eingeliefert worden, wo sie wieder Fieber bekam und an einer schweren Lungenentzündung erkrankte. Doktor Kerschensteiner habe sich ihrer angenommen und erst nach drei Wochen, als es um die Bezahlung der Arztkosten und des Klinikaufenthalts ging, die Mutter benachrichtigt. Diese sei zur nächsten allgemeinen Besuchsstunde erschienen und habe ihr sofort Vorwürfe gemacht, weil sie die Eltern so lange im Ungewissen gelassen habe. Dabei sei sie in Tränen ausgebrochen, doch die Mitpatientinnen, die von Lena wussten, was geschehen war, hätten sie nur ausgelacht. Am nächsten Tag sei sie wiedergekommen, um Lena abzuholen. Doktor Kerschensteiner habe allerdings nur schweren Herzens seine Einwilligung gegeben. Die Mutter habe ihn erst mit vielen Tränen und dem Versprechen, ihre Tochter nicht mehr zu misshandeln, dazu bewegen können.
    Die Angaben des »Städtischen Krankenhauses links der Isar« lauten:
    Pichler Magdalena, Gastwirtstochter
    München, Sandstraße 34/4r bei den Eltern kath.
    16 Jahre
    Saal 104
    Zugang: 27.9.98 10 ¼ Uhr
    Abgang: 30.9.98
    Diagnose: Hysterie, Angina catarrhalis
    Aufenthalt 3 Tage, arbeitsfähig entlassen.
    Bis heute wird Lena Christ in vielen Publikationen hysterisch genannt. Die Hysterie gehört zu den psychiatrischen Begriffen, die auch gern unreflektiert mit großer Selbstverständlichkeit von Laien benutzt werden. Innerhalb der Psychiatrie wurde wohl keine andere Diagnose so sehr als männliches Herrschaftsinstrument missbraucht. Die Hysterisierung der Frau gehörte zum Geschlechterkampf des Fin de Siècle und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Den Frauen, die sich nicht in die geforderte weibliche Rolle fügten und dagegen rebellierten, drohte man sogar mit Entmündigungsverfahren wegen Unzurechnungsfähigkeit. Eine davon war Franziska zu Reventlow, die sich sogar mehrfach gegen diese Disziplinierungsmaßnahme behaupten musste.
    Das Wort Hysterie taucht bereits im 18. Jahrhundert auf als neue Fachbegriffsschöpfung, die von der altgriechischen Bezeichnung für Gebärmutter, »hystera«, abgeleitet wurde. Das Adjektiv hysterisch bedeutet ursprünglich »die Gebärmutter betreffend« und bezeichnet Verhaltensweisen, die als übertrieben nervös und überspannt wahrgenommen werden. Anfangs hielt man die Hysterie für ein organisch bedingtes Leiden. Das änderte sich, nachdem Sigmund Freud und Josef Breuer 1895 die Studien über Hysterie publiziert hatten, in denen sie ihre Einsichten über den Zusammenhang von Lebensgeschichte und neurotischem Krankheitsgeschehen darlegten. Sie lassen sich am Beispiel berühmter Krankengeschichten – Anna O., Emmy v. N., Katharina – detailliert nachvollziehen. Zu den Symptomen der Hysterie zählte man: ausgeprägte Fantasie, Egozentrik, Dramatisierung, Übertreibung, Suggestibilität. Heute gilt Hysterie nicht mehr als brauchbare diagnostische Kategorie. Denn weder gibt es für die Vielzahl von Symptomen nachweisbare gemeinsame Ursachen noch ein einheitliches Erscheinungsbild oder eine klassische Verlaufsform. Doch in dem Maße, in dem der Begriff aus der Psychiatrie verschwunden ist, hat er sich in der Alltagssprache festgesetzt: Heutzutage ist es üblich, gefühlsbetontes, übertriebenes und exaltiertes Verhalten damit zu belegen.
    Für Lena Christs Hang zu Übertreibung, Zuspitzung und Überhöhung gibt es zahlreiche Beispiele. So wurden aus nachweislich drei Tagen Krankenhausaufenthalt in den Erinnerungen drei Wochen. Doch solche dramaturgischen Variationen sind in der Kunst an der Tagesordnung. Ja, die meisten Symptome, die im allgemeinen Verständnis der Hysterie zugerechnet werden, gehören zu den Eigenschaften und Talenten, die überhaupt erst zu kreativer Arbeit befähigen. Wie sollte ein Schauspieler oder Performer sein Publikum fesseln,

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