Lena Christ - die Glueckssucherin
hatte die große Schwester drei kleine Brüder zu betreuen.
Mitten in Lenas trostlosem Alltag leuchtete plötzlich ein Glücksstrahl auf. Ihre schöne Stimme wurde entdeckt. Sie war dem Pfarrer aufgefallen, der dafür sorgte, dass sie in den Kirchenchor aufgenommen wurde. Es dauerte nicht lange, bis sie die Solostimme im Gottesdienst und bei kirchlichen Feierlichkeiten sang. Sie war also doch etwas Besonderes und hatte so großes Talent, dass die Öffentlichkeit davon erfuhr. Sie trat auf und erhielt Applaus. Man achtete und schätzte sie. Das konnte auch ihre Mutter nicht verhindern. Den Neid der anderen Chorsängerinnen nahm sie dafür gern in Kauf.
Als sie einmal bei einer Feier sang, an der »der würdige Prälat und Pfarrer Huhn von der Heiliggeistkirche« teilnahm, zeigte sich dieser tief berührt von ihrem Gesang. Er fragte sie, ob sie »Lust hätte, ein braves Pilgermädchen bei der Münchner Wallfahrerbruderschaft zu werden und an den heiligen Stätten zu Andechs, Altötting und Grafrath Gottes und Mariä Lob zu singen«. Die Mutter konnte ihr die Erlaubnis nicht verwehren. Dafür hielt sie selbst zu viel auf die Kirche und demonstrierte ihre Frömmigkeit bei jeder Gelegenheit. Noch im selben Jahr nahm Lena als Pilgermädchen an den Wallfahrten teil. Als »Lichtblicke in eine irdisch-himmlische Glückseligkeit« bezeichnet Goepfert diese Ereignisse. Und genauso schildert Lena Christ die Wallfahrt nach »dem uralten, weltberühmten Gnadenorte Altötting«. Schon die Vorbereitungswochen waren für sie eine erfüllte Zeit. Der Chor studierte die Marienlieder ein, die Generalprobe wurde zum Fest. Innerhalb der Wallfahrerbruderschaft herrschte eine vertrauensvolle Atmosphäre gegenseitigen Respekts. All das war neu für Lena.
Ihr Verhältnis zur Mutter besserte sich in jener Zeit. Sie erlaubte ihr, am Vortag der Wallfahrt früh ins Bett zu gehen – Lena musste nicht wie sonst bis spät in die Nacht hinein mitarbeiten –, und richtete ihr sogar ein Bad. Vor Aufregung konnte Lena jedoch kaum schlafen. Sie betete für gutes Wetter und stand schon um vier Uhr morgens auf. Die Mutter half ihr beim Anziehen: »Über das weiße Kleid kam ein himmelblaues Schulterkräglein und vor die Brust ein großes silbernes Herz, das an einem blauen Bande hing, und nachdem die Mutter mir das weißblaue Kränzlein ins Haar gedrückt, nahm ich den langen Pilgerstab mit dem silbernen Kreuz und eilte nach einem raschen ›Pfüat Gott, alle mitanand!‹ aus dem Haus der Kirche zu.« Dabei begegnete sie einigen Nachtschwärmern, die auf dem Heimweg waren, Bäckerburschen, unterwegs zu ihrer Arbeit, und einer Gruppe junger Männer, von denen sie angepöbelt wurde. Doch all das interessierte sie nicht.
Beeindruckend war etwas ganz anderes: »Mächtig brauste schon die Orgel, als wir in das Gotteshaus traten.« Nach dem Hochamt feierten die Pilger – Lena Christ spricht von fünftausend – die Generalkommunion. Vor Ergriffenheit fühlte sie sich kaum in der Lage, das Solo im Marienlied zu singen, doch sie nahm sich zusammen und schaffte es. Dann begann die Wallfahrt: Die zweihundert Pilgermädchen führten die Prozession an. Singend und betend schritten sie zum Ostbahnhof, wo ein Sonderzug bereitstand, der sie nach Mühldorf brachte. Von dort aus ging es zu Fuß weiter. Mittags trafen sie in Altötting ein. In der Gnadenkapelle wusste Lena auf einmal gar nicht mehr, worum sie die Mutter Gottes bitten sollte. Sie war in eine überirdische Stimmung geraten, in der sie sich frei und sorglos fühlte angesichts der Schönheit des Gnadenaltars. Es dauerte eine Weile, bis ihr nach und nach all die Dinge einfielen, die sie sich wünschte und bei denen sie Hilfe brauchte. Doch insgesamt erlebte sie diese Szene wie im Rausch. »Ich weiß nicht, wie es kam und was ich wollte: kurz, ich befand mich plötzlich unter den Kreuztragenden; da das massive Eichenkreuz aber meiner Schulter ziemlich weh tat, ließ ich es bei dem dreimaligen Umgang bewenden.« Darauf folgten Stadtbesichtigung, Feier und Nachtmahl. Ein eigenes Bett konnte sie sich nicht leisten, zum Glück teilte eine Freundin ihres bereitwillig, und die beiden verbrachten die Nacht »unter Flüstern, Kichern, Scherzen und Kosen«. Doch am nächsten Tag wurde Lena wieder von Traurigkeit heimgesucht, als nach dem Schlussamt das Abschiedslied von der schwarzen Madonna gesungen wurde. Zu Hause hatte die Mutter kein Verständnis für die wehmütige Stimmung der schweigsamen Pilgerin, sondern
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