Lena Christ - die Glueckssucherin
Mutter habe ihn aufgesucht. Sein Bericht, »dieselbe machte einen guten Eindruck und hat mir viel Schönes von ihrem Kinde erzählt«, überrascht. Es war der Mutter offensichtlich daran gelegen, dass ihre Tochter die Klosterlaufbahn einschlug und damit einen Weg, den sie mit ihrer eigenen Religiosität bestens vereinbaren konnte. Zwar würde sie auf Lenas Mithilfe in der Gastwirtschaft verzichten müssen, aber dafür würde Ruhe einkehren. Die Ereignisse der letzten Monate hatten auch bei ihr für Ratlosigkeit gesorgt. Sie wusste einfach nicht mehr, wie sie mit ihrer beinahe erwachsenen Tochter umgehen sollte. Die körperlichen Züchtigungen hatten sich als unwirksam erwiesen und waren sogar schon polizeilich aktenkundig geworden.
Eine Mischung aus Erleichterung und Resignation klingt an in den Worten, die Lena Christ in ihren Erinnerungen wiedergibt: »Kost’s, was’ s mag, wannst nur recht a brave Klosterfrau wirst!«
Am 4. Dezember 1898, beinahe auf den Tag genau vier Jahre nach dem Tod ihres Großvaters, beschritt Lena den Weg in einen neuen Lebensabschnitt. Zusammen mit ihrer Mutter fuhr sie mit der Bahn nach Augsburg. Dort hatten sie einen längeren Aufenthalt und schauten sich die Stadt an, was Lena Christ in ihren Erinnerungen wie den harmonischen Ausflug zweier Freundinnen schildert. Doch Lena war so sehr mit ihrer Zukunft beschäftigt, dass sie sich nur für die Klosterfrauen interessierte, die ihnen begegneten. Dabei fiel ein erster Wermutstropfen auf ihre Erwartungen, denn die Kleidung der Nonnen gefiel ihr überhaupt nicht, und sie fürchtete, »es möchten die Frauen des heiligen Josef ebensolche unschöne Gewandung tragen«.
Sie fuhren von Augsburg aus weiter mit der Bahn nach Thannhausen und von dort mit einem Stellwagen zum Kloster, das schon von Weitem zu sehen war: »angelehnt an einen bewaldeten Hügel, ein imposantes Gebäude und rings um dasselbe eine Menge kleinerer, die den Eindruck einer kleinen Stadt machten. Etwas abseits lagen wieder eine Anzahl Häuser, die mehr ländlichen Charakter hatten und von Bäumen umgeben waren. Um das große Gebäude und den Berg zog sich eine Mauer, und von dem Dach grüßten ein paar große, mit hohen Schneehauben überzogene Storchennester. Dazwischen ragten mehrere kleine Türmlein in die klare Luft, und von einem größeren klang einladend das Mittagsläuten zu mir herüber.«
11 Kloster Ursberg
In ihrem autobiografischen Roman hat Lena Christ eine Umbenennung vorgenommen: Aus Kloster Ursberg wurde Kloster Bärenberg. Seit 1884 war in Kloster Ursberg die St. Josefs-Kongregation der Franziskanerinnen untergebracht. Der Gründer Dominikus Ringseisen hatte dort eine Einrichtung zur Pflege körperlich und geistig Behinderter ins Leben gerufen. Daneben war das Kloster auch eine Bildungsstätte für Mädchen.
Während der Fahrt, der langsamen Annäherung an den Ort, auf den all ihre Hoffnungen gerichtet waren, wurde Lena jedoch unsanft aus ihren Tagträumen gerissen: Einige der Mitreisenden auf dem Stellwagen waren stark behindert; besonders ein junger Mann, der Grimassen schnitt und vor sich hin lallte, nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Den Gesprächen seiner Begleiterinnen entnahm sie, dass er »blöd und epileptisch krank« war. Was sie in dieser kurzen Zeit zu sehen und zu hören bekam, ließ ihren Mut und ihre Freude schwinden. Sie war so verstört, dass eine Mitreisende ihre Mutter fragte, ob sie ihr »Deppala« auch in die »Kretinenabteilung« bringe. Als die Mutter entgegnete, ihre Tochter wolle Klosterfrau werden, schüttelte die Frau den Kopf und meinte, ein so blasses und mageres Mädchen sei für diesen anstrengenden Beruf nicht geeignet. Für Lena geriet auf einmal alles durcheinander: ihre Pläne, die Erzählungen der jungen Nonne, ihre Hoffnungen. Doch auf dem Hügel angekommen, wurde sie von der Schönheit des Gebäudes in Bann gezogen und beruhigte sich.
Eine Schwester führte sie zum Zimmer des Superiors, in dem so viele Bücher, Hefte, Zeitschriften, Akten und Briefe herumlagen, wie Lena es sonst nur aus Schreibwarenläden kannte. Der Superior fragte, ob sie überhaupt wisse, was es bedeute, Klosterfrau zu werden, und schilderte ihr dann ebenso detailliert wie drastisch den Aufbau der Einrichtung: »Unsere Anstalt besteht aus einem Blindenheim, einem Taubstummeninstitut, einer Heimstätte für alte, schwächliche Personen und einer Pflegeanstalt für Kretinen, Epileptische, Irre, Tobsüchtige und durch Ausschweifung Zerrüttete,
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