Lena Christ - die Glueckssucherin
wenn nicht durch Egozentrik und Theatralik? Wie sollte ein Schriftsteller seine Leser fesseln, wenn nicht durch Fantasie? Wann kann man von einem »Übermaß« sprechen, und wer kann das entscheiden? Festzuhalten ist, dass Lena Christ in München in einer Umgebung lebte, der ihre Begabungen fremd waren. Ihre Mutter empfand sie sogar als Bedrohung, die sie bekämpfen musste.
Nachdem die Mutter Lena aus dem Krankenhaus geholt hatte, ließ sie ihre Tochter zunächst in Ruhe. Sie habe ihr nicht einmal Vorwürfe wegen der Krankenhausrechnungen gemacht, die sie bezahlen musste, wunderte sich Lena Christ in ihren Erinnerungen . Auch habe sie zunächst den Wunsch der Tochter akzeptiert, eine Stellung als Dienstmädchen anzunehmen. Doch sie spielte ein falsches Spiel. Als Lena sich in der Marienanstalt um eine Dienstbotenstelle bewarb, war die Oberin schon von der Mutter instruiert. Sie vertrat deren Prinzipien, befürwortete offen die Prügelstrafe und ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, wie sie mit etwaigem Fehlverhalten umgehen würde. Daraufhin lief Lena »heim zum Vater«. Nicht nur in dieser beiläufigen Formulierung wird deutlich, dass er damals – nach dem Tod der Großeltern – der einzige Mensch war, bei dem sie so etwas wie ein Zuhausegefühl verspürte. Er empfing sie freundlich, sagte ihr seine Hilfe zu und wies die Mutter in die Schranken. So behandle man kein krankes Mädchen, dabei könne sie »koa Liab und koa Achtung lerna«. Zuletzt forderte er seine Frau auf, sich so zu benehmen, »wie es si g’hört, na werd si bei ihr aa nix fehln!« Sein Machtwort wirkte. Das Ergebnis fasst Lena Christ in einem einzigen Satz zusammen: »Darauf brachte mich die Mutter zu Bett und behandelte mich von nun an gut und freundlich.«
Doch schon einen Monat später kam es zum nächsten Zwischenfall: Anlass war der zehnte Hochzeitstag der Eltern, der mit Lenas siebzehnten Geburtstag zusammenfiel. Lena schmückte das Nebenzimmer der Gaststube mit Papiergirlanden, fertigte ein Transparent an, stellte zehn Wachskerzen auf, arrangierte die Geschenke und verfasste ein Gedicht. Am Vorabend, als die Eltern mit Gästen am Stammtisch saßen, ertönte plötzlich Musik aus dem Nebenzimmer: Der Raum war von Kerzen erleuchtet, Geschenke für das Paar lagen bereit. Neben den zehn Kerzen standen jedoch weitere siebzehn auf einem zweiten Brett. Damit wollten die drei Brüder ihrer großen Schwester zum Geburtstag gratulieren. Lena trug ihr Gedicht vor, ein Stammgast ließ das Hochzeitspaar und das Geburtstagskind hochleben, doch die Mutter versteinerte zusehends. Schließlich machte sie ihrem Ärger Luft und fragte, ob denn alle verrückt geworden seien, sie sei doch schon zwanzig Jahre verheiratet. Zu jenem Zeitpunkt war sie achtunddreißig und ihr Mann fünfunddreißig Jahre alt. Lena stellte die Fakten denn auch umgehend richtig. Offensichtlich schreckte ihre Mutter vor absurden Lügen nicht zurück, wenn es darum ging, ihre Ehrbarkeit und Wohlanständigkeit außer Frage zu stellen. Ein uneheliches Kind hatte da natürlich nichts zu suchen. Magdalena Isaak gebot ihrer Tochter zu schweigen und kündigte ihr gleichzeitig die bevorstehenden Prügel an. Wie es weiterging, kann man in einer Lausdirndlgeschichte lesen: »Aber da packt sie mich beim Schlafittich, jagt mich ins Bett, und am andern Tag gibt’s furchtbare Prügel«, heißt es am Schluss der Familienfeier .
Davor hat die Autorin den verhängnisvollen Tag ebenso eindringlich wie lakonisch geschildert:
»Also. Am ersten Oktober hat die Mutter ihren zehnten Hochzeitstag mit meinem Stiefvater gefeiert, und ich bin an dem Tag siebzehn Jahr alt geworden.«
Es sei zwar im Sinne der Mutter gewesen, diesen Tag groß zu feiern, doch sie wollte alles unter Kontrolle behalten und selbst bestimmen, welche Details ihrer Lebensgeschichte preisgegeben werden sollten.
»Jetzt ist es so zum Verzweifeln.
Nichts kann ich mehr recht machen.
Als ob ich was dafür könnte, dass die Mutter erst zehn Jahre verheiratet ist.
Hätte sie halt den andern Vater geheiratet!
Und jetzt heißt es, ich habe sie blamiert.
Ich habe doch gar nichts dabei gedacht, und überhaupts!
Bei uns muss schon auch alles gefeiert werden!
Jeder Geburtstag, jeder Namenstag, jede heilige Zeit wird bei uns mit Tschintarratta gefeiert!«
9
Fluchtlinie 1: Kloster
In derselben Lausdirndlgeschichte nennt die Autorin die Fluchtlinien, die ihr als Ausweg aus ihrer unerträglichen Situation einfielen:
»So. Jetzt ist ein
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