Lena Christ - die Glueckssucherin
hielt er Lenas Besuche geheim, weil er Gerede fürchtete. Er wollte ihre Beziehung schützen, den Zauber und die Unschuld bewahren. Doch die Tage dieser zarten Liebe waren gezählt, denn er wurde erneut versetzt, diesmal »als Benefiziat in ein geistliches Institut«. Als sie ihn zum Abschied umklammerte, machte er sich sanft los und schickte sie einfach heim. Ihr entging nicht, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Als sie von der Straße aus zu seinem Fenster schaute, winkte er ihr zu. Nur noch einmal sah sie ihn wieder: anlässlich einer Prozession. Sie ging direkt an ihm vorbei, er stand an der Straßenecke mit einer älteren Frau, die sie für seine Mutter hielt. »Als er mich erblickte, huschte es wie große Freude über sein Gesicht, und lächelnd nickte er mir einige Male grüßend zu und wandte sich danach schnell zur Seite.« Sie war über dieses Wiedersehen sehr glücklich, dachte während der Prozession andauernd an ihn und betete für ihn.
Kurz darauf erkrankte sie an Diphtherie. Sie hatte sich bei der Pflege ihrer Brüder angesteckt, kurierte sich nicht aus, sondern stand zu früh auf. Die Mutter hielt sie sofort zum Arbeiten an, Lena nahm sich zusammen, nur ihr Körper machte nicht mit. Vor Erschöpfung schlief sie mitten beim Aufräumen des Elternschlafzimmers ein. Als die Mutter sie auf dem Bett liegend fand, schlug sie »dös faule Luder« und strafte sie mit weiteren Aufgaben. Beim Säubern des Bodens wurde Lena ohnmächtig. Wieder war es die Mutter, die sie fand, sofort mit Schlägen und Fußtritten traktierte und zum Weiterarbeiten trieb.
Was dann geschah, schildert Lena Christ wie einen Fiebertraum: Sie nahm die volle Waschschüssel, betrachtete das Innere der himmelblauen Schale, in dem zwei Mädchen in fremder Tracht an einem Strand standen, vor ihnen ein junger Mann in einem Segelboot. Wie somnambul träumte sie sich in das Bild hinein. Das Geschirr war offensichtlich kostbar, ein Kunstwerk, der Künstler hatte sein Werk signiert. Lena machte einige schwankende Schritte, und als die Mutter sie schubste, um sie anzutreiben, passierte das Unglück: Sie ließ die Schale fallen. »Starr blickte ich erst auf die Wasserlake, dann auf die Scherben und vergaß, aufzustehen, bis mich die Mutter mit dem Ochsenfiesel des Vaters daran erinnerte.«
Nachdem sie ihre Tochter verprügelt hatte, drohte sie ihr noch Ärgeres an für den Fall, dass sie nicht die gleiche Schüssel besorgen würde. Lena nahm Geld aus ihrer Spardose, zog sich an und verließ das Haus. Sie hatte keinen Plan, lief einfach drauflos, von Gern nach Laim und dann Richtung Großhadern. Irgendwann brach sie ohnmächtig auf der Landstraße zusammen und wurde spätabends von einem Bauern gefunden. Er brachte sie mit seinem Fuhrwerk zu einem Gasthaus in Großhadern. Lena vertraute sich der Wirtin an, die sie freundlich aufnahm, sich jedoch nicht vorstellen konnte, dass das kranke Kind von seiner Mutter so stark misshandelt worden war. Sie hielt es für das Beste, Lena so bald wie möglich nach Hause zu schicken. Lena weigerte sich heftig und bot an, in der Gastwirtschaft mitzuhelfen, war sie es doch gewöhnt, auch im Zustand größter Schwäche ihre Arbeit zu verrichten.
In ihrer Ratlosigkeit bezog die Wirtin den Stammtisch mit ein, an dem neben dem Bürgermeister auch der Arzt saß, der sofort feststellte, dass Lena längst noch nicht gesund war, sondern eine Lungenentzündung drohte. Nachdem die Herren Lenas Geschichte vernommen hatten, fragte einer, ob sie wirklich glaube, dass ihre Mutter sie totschlage, was Lena bejahte. Für ihr ehrliches Geständnis erntete sie allgemeines Gelächter und machte in diesem Augenblick eine ebenso extreme wie nachhaltige Erfahrung: Sie wurde trotz ihrer Anwesenheit zum abstrakten Fall gemacht. Man redete nicht mit ihr, sondern über sie – ganz selbstverständlich in der dritten Person. Die Männer bedauerten das arme Mädchen und äußerten sich verständnislos über »so ein Weibsbild« wie ihre Mutter. Sie übertrafen einander an Entrüstung, Verwünschungen und dem Ausmalen der brutalsten Strafen für das unmenschliche Verhalten. Doch irgendwann sagte ihnen ihr Realitätssinn, dass diese Angelegenheit sie und ihre Gemeinde eigentlich nichts angehe. Daher sei es am besten, Lena begebe sich in ein Münchner Krankenhaus. Vorher solle sie ihre Mutter bei der Polizei anzeigen.
Die Vorhersage »Nachher bist gut aufg’hoben, und deiner Mutter schiab’n s’ hoffentlich an Riegel vor ihre
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