Lena Christ - die Glueckssucherin
und allmählich begann das Lokal, sich zu füllen. Die Gäste waren um diese Zeit vor allem Arbeiter aus der Umgebung: Maurer, Steinmetze, Schlosser, Schreiner, Drechsler, Pflasterer und Kanalarbeiter. Aus den in der Nähe gelegenen Fabriken – eine Bleistift-, eine Möbel-, eine Sarg-, eine Bettfedern- und eine Schuhfabrik – holte man Brotzeiten für die Arbeiter. Das Geschäft blühte. Den Morgen verbrachte Lena meistens in der Küche, nur wenn die Kellnerin ausfiel, musste sie einspringen. Die Mutter begann ihren Tag mit dem Frühstück in der Gaststube, wo sie »ihre drei bis vier Weißwürste aß und etliche Krügl Bier trank«, während der Vater auf dem Schlachthof war. Nach und nach verfiel die Mutter wieder in ihre alten Verhaltensmuster und ließ ihren Launen freien Lauf. Sie schalt und ohrfeigte Lena, wenn sie mit irgendetwas unzufrieden war. Einmal warf sie Leberknödel nach ihr und – was für Lena das Unangenehmste an dieser Szene war – beklagte sich bei den Gästen über die ungeschickte Tochter, die daraufhin die Lust an der Arbeit in der Küche verlor.
Um viertel vor zwölf begann das Mittagessen. Die Mutter teilte der Kellnerin die aktuelle Speisekarte mit: Meistens gab es Nierenbraten, Schweinsbraten, Ochsenfleisch, aber auch »Bifflamott« – bœuf à la mode. Anschließend half Lena dem Vater in der Schenke und sorgte dafür, dass er und die Brüder, die aus der Lateinschule kamen, etwas zu essen erhielten. Dann hatte die Mutter ihren großen Auftritt. Lena war jedes Mal beeindruckt, wenn diese die Gäste mit einem selbstbewussten »Habe die Ehre, meine Herrn!« begrüßte.
Einen einzigen Streit zwischen den Eltern schildert Lena Christ. Er erinnert an den Disput der Großeltern, bei dem die kleine Enkelin sich verpflichtet fühlte, als Schlichterin aufzutreten. Im Fall ihrer Eltern hielt sie sich heraus. Die Mutter beschimpfte ihren Mann, weil er auf dem Markt ein Schwein gekauft hatte, dessen Fleisch nicht schmeckte. »Da hörte ich zum erstenmal, seit ich den Vater kannte, ihn zornig mit der Mutter streiten«, berichtet Lena Christ. Am Nachmittag verließ er, ganz gegen seine Gewohnheit, die Gastwirtschaft und kam erst spätabends betrunken nach Haus. Anscheinend hatte er seiner Frau damit einen großen Schrecken eingejagt, denn sie erwähnte den Streit nicht mehr und beherrschte sich bei ähnlichen Anlässen. Verbal war sie ihm zwar überlegen, aber sie fürchtete seine Konsequenz im Handeln.
An den Nachmittagen konnte Lena selbstständig und eigenverantwortlich agieren, was ihren Ehrgeiz befriedigte. Die Eltern ruhten sich aus oder gingen ins Kaffeehaus und überließen ihr die Gaststätte. Zwischen zwei und drei Uhr aß sie in aller Ruhe zu Mittag, trank ein Bier und las die Zeitung. Dann kamen erneut Gäste, nahmen ihre Brotzeit ein und spielten eine Runde Karten. Bald war es wieder leer, sodass sie mit den Vorbereitungen für den Abend beginnen konnte.
Im Gegensatz zu früher fand sie es jetzt gar nicht mehr so unangenehm, in der Gaststube zu arbeiten. »Es währte nicht lange, da war ich das lustigste Mädel, machte jeden anständigen Scherz mit und unterhielt ganze Tische voll Gäste.« Damals hatten sich die Stammgäste zu Tischgesellschaften zusammengeschlossen. Die Postbeamten und Eisenbahner nannten ihre Gesellschaft »Eichenlaub« und wählten Lena zur Vereinsjungfrau. Die Tischgesellschaft der »Arbeitsscheuen«, die ihrem Namen zum Trotz aus ehrbaren Bürgern und Geschäftsleuten bestand, ernannte sie zur Ehrendame, die sie bei der Verleihung des Ehrenzeichens auf einem Stuhl sitzend in die Luft hoben und durch die Gaststube trugen. Sie genoss diese Aufmerksamkeitsbezeugungen – es tat gut, emporgehoben zu werden.
Allerdings gab es auch weniger charmante Begegnungen mit Männern, zum Beispiel mit einem Weinlieferanten, der im Keller versuchte, sie zu vergewaltigen. Doch sie wusste sich zu wehren, »fuhr ihm mit allen Fingernägeln über das Gesicht, ergriff die nächstbeste volle Flasche und schlug sie ihm so um den Kopf, dass sie in Scherben ging«. Über ihre Geistesgegenwart und Kaltblütigkeit war sie noch überraschter als der Angreifer, den sie nie wieder sah. Sie hatte gelernt, ihre Fäuste zu gebrauchen, um sich zu wehren und um Streitigkeiten im Lokal zu schlichten, Raufende voneinander zu trennen. Das machte sie so gut, dass ihr Vater sie manchmal rief, wenn er selbst keine Zeit hatte einzugreifen. Sie versuchte es zunächst immer mit »Güte« und Appellen
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