Lena Christ - die Glueckssucherin
sie »keinerlei Kontakt« wolle. Anna Kaltenbach und ihren Eltern war das zwar unverständlich, doch sie respektierten ihren Wunsch.
Ihre Zeit in der Floriansmühle schildert Lena Christ in ihren Erinnerungen als eine reiche, leuchtende und intensive. Man spürt, wie wohl sie sich gefühlt hat. Dieser Teil ihres Buches wirkt leicht und heiter wie kein anderer und erweckt den Anschein, als habe es sich um eine lange Lebensspanne gehandelt, die sie reiflich ausgekostet hat. Vielleicht wünscht man sich als Leser einfach nach so viel Dunkelheit und Schwere ein Gegengewicht. Die Überraschung ist groß, wenn es plötzlich heißt: »Als ich etwa zwei Monate im Haus war, erschien eines Nachmittags ganz unverhofft meine Mutter und wollte wissen, wie ich mich führe.« Man ist versucht, noch einmal nachzuschlagen, ob es wirklich nur zwei Monate waren, die gerade so eindringlich und detailliert geschildert wurden. Doch dann folgt die zweite Überraschung: Nachdem die Mutter nur das Beste über das Verhalten und die Arbeitsweise ihrer Tochter sowie die Höhe ihres Lohnes erfahren hatte, versuchte sie, das leuchtende Bild, das die Wirtin gezeichnet hatte, zu beschädigen. Sie beklagte sich über Lena und erzählte von ihrem Selbstmordversuch. Die Wirtin ging nicht auf die Diffamierungen ein, sondern sagte, was zwischen Mutter und Tochter gewesen sei, gehe sie nichts an. »Bei mir is sie rechtschaffen und ehrli, und konn i ihr net’s geringste nachredn!« Türschlagend verließ die Mutter die Gaststube. Lena wollte sie so nicht fortlassen und lief ihr nach. »I hätt di gern wieder dahoam g’habt«, gestand plötzlich die Mutter, doch da es der Tochter in der Floriansmühle offensichtlich sehr gut gehe, sei das wohl aussichtslos. In diesem Moment reagierte Lena anders, als jeder – auch ihre Mutter – es erwartet hätte. Beinahe weinend beteuerte sie: »O naa! I wär viel lieber dahoam.«
Diese Begegnung ist eine Schlüsselszene innerhalb der Mutter-Tochter-Beziehung und repräsentiert die Ambivalenz, mit der jede der anderen begegnete. Eine minimale Zuwendung der Mutter reichte aus, um bei der Tochter Hoffnung und Sehnsucht zu wecken. Vielleicht würde jetzt alles gut werden. Das gleicht dem Verhalten misshandelter Kinder, die man vor ihren Eltern in Sicherheit gebracht hat und die doch beim kleinsten Entgegenkommen wieder zu ihnen zurückwollen. Dabei lag das Motiv der Mutter auf der Hand: Sie konnte Lenas Arbeitskraft gut gebrauchen. Erst Lenas Nachsatz zeigt, dass es sich bei ihr nicht nur um Zuneigung und Heimweh handelte, sondern auch Standesbewusstsein eine Rolle spielte: »Sagn ’s ja alle Leut, dass ’s a Schand is, wenn a so reiche Bürgersfamilie ihr Tochter zum Deana lasst!« Lena war sich ihrer Position bewusst. Ihre Familie war mittlerweile sehr wohlhabend; der Vater hatte das vierstöckige Haus in der Sandstraße gekauft, in dem sich das Lokal befand. Von dieser Entwicklung wollte sie profitieren. Hinzu kam, dass sie längst im heiratsfähigen Alter und als Bürgerstochter eine gute Partie war. Da konnte eine Anstellung wie die in der Floriansmühle hinderlich sein und etwaige Bewerber misstrauisch werden lassen.
Lena begleitete ihre Mutter ein Stück, wobei es noch einmal zu einer ungewöhnlichen Annäherung zwischen den beiden kam: Die Mutter ergriff plötzlich Lenas Hände, betrachtete die inzwischen vernarbten Spuren des Selbstmordversuchs und sagte: »So dumm z’sei! Wia leicht kunntst tot sei und i hätt d’Verantwortung.« Es scheint, als hätte sie erst in diesem Augenblick realisiert, was geschehen war. Ehrliche Anteilnahme, verspätetes Begreifen der Tragweite dieser Handlung, Angst um ihren guten Ruf – all das schwingt darin mit. Für Lena stand nun fest, dass sie zurückwollte. Sie war nicht länger die überflüssige Wirtsleni, sondern wurde von ihren Eltern gebraucht. Diesen Platz würde sie jetzt einnehmen und ganz für sich erobern. Den Rat ihrer Chefin, nach allem, was sie zu Hause erlebt hatte, lieber den Verstand als das Herz sprechen zu lassen, schlug sie in den Wind.
11
Fluchtlinie 2: Ehe
Mitte Dezember 1900 verließ Lena die Floriansmühle mit gemischten Gefühlen, denn so sehr sie sich auf zu Hause freute, so schwer fiel ihr der Abschied. Sie war reich beschenkt und mit vielen guten Wünschen bedacht worden. Zu Fuß lief sie durch den Englischen Garten. Als sie einen Fiaker hinter sich hörte, hatte sie plötzlich eine Idee. Sie hielt ihn an und ließ sich zur Sandstraße
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