Lena Christ - die Glueckssucherin
und erklärte nicht ohne Stolz, sie habe zu Hause manches Mal selbstständig die Gastwirtschaft – ein gut gehendes Geschäft – geführt. Das schien der Hausherrin sehr zu gefallen: »Bloß a Schneid braucht’s und an guatn Willn«, war ihre Überzeugung. Lena wurde sofort eingestellt und sollte schon am nächsten Tag mit der Arbeit beginnen. Sie war auf einmal voller Optimismus und Lebensfreude, die entsetzlichen Tage mit der Mutter waren fürs Erste in den Hintergrund gedrängt. Sie wollte ihre Chance nutzen. Die neuen Dienstherren sollten mit ihrem Fleiß und ihrer Zuverlässigkeit zufrieden sein. Laut singend lief sie am nächsten Morgen durch den Englischen Garten der Floriansmühle entgegen.
Die Gastwirtschaft war mehr als gut besucht, besonders am Nachmittag: »Da kamen Herrschaften in ihren Equipagen, die sich mit Brathähndln, Eierspeisen, kalten Platten und dergleichen Leckerbissen aufwarten ließen, ferner Radfahrer, die in großer Eile ihren Kaffee tranken, und auch an Spaziergängern fehlte es nicht, die da ihren Käs mit Butter, ein Ripperl oder Regensburger verzehrten.« Hundert Krapfen lagen bereit, der Kaffee wurde in kleinen Kännchen serviert. Oktober 1900 war die Zeit der Herbstmanöver, dreißig Soldaten, darunter sechs Offiziere, wurden in der Floriansmühle einquartiert und blieben beinahe zwei Wochen. Als die Schenkkellnerin ausfiel, weil sie ein Kind bekam, übernahm Lena ihren Platz. Außerdem musste sie die Gäste und die Offiziere bedienen. Es war stets genug zu tun, doch Lena meisterte die Aufgaben, es ging ihr »alles glücklich von der Hand«, sodass man ihr nach wenigen Tagen das Versprechen abnahm, zu bleiben. Sie gab es gerne, denn sie fühlte sich wohl, wurde anerkannt, verdiente »ein schönes Stück Geld und lernte überdies mit feinen Leuten umzugehen«. Die Mutter würde sich wundern. Obwohl Lena froh war, von ihr weg zu sein, dachte sie ihr Zuhause immer mit.
Die Offiziere hatten vom Wirt erfahren, dass sie »eine Bürgerstochter und ein braves Madel war«, und behandelten sie mit Respekt. Zum Abschied veranstalteten sie einen Ball. Nach dem Festmahl wünschten sie ihr das Beste und gaben ihr ein üppiges Trinkgeld. Ein Leutnant bat sie um ein »Busserl«, dadurch würde dieses Herbstmanöver für ihn unvergesslich sein. Er schenkte ihr eine Kette mit einem Medaillon und fragte die Wirtsleute, ob Lena nicht für diesen Abend Urlaub haben könnte, um am Ball teilzunehmen. Er war ein hervorragender Tänzer und meinte es ehrlich, berichtet Lena Christ, »denn er wollte nicht einmal das ›Busserl‹, das er mir am Abend abverlangt hatte, behalten und gab es mir mit dankbarem Blick vierfach zurück, ehe er beim Morgengrauen den Tanzsaal verließ«.
Lena war in eine Phase eingetreten, die sich durch ein vollkommen neues Lebensgefühl auszeichnete. Die Enge der elterlichen Gastwirtschaft, in der die Mutter drohend dominierte und ihr Selbstwertgefühl bestimmte, lag in weiter Ferne. Nichts von dem, was sie in der Floriansmühle erlebte, knüpfte daran an. Wo früher alles eng und dunkel war, tat sich nun eine helle Weite auf. Und sie wurde begehrt, konnte sich vor Verehrern, alten wie jungen, vornehmen wie einfachen, reichen wie armen, nicht mehr retten. Anfangs wusste sie nicht so recht, wie sie damit umgehen sollte – als einer beim Fensterln von der Leiter fiel, fühlte sie sich schuldig –, doch ihre Dienstherrin stand ihr bei und ermunterte sie, die jungen Burschen ruhig ein wenig an der Nase herumzuführen. Lena nahm ihren Rat an: »Ich ließ mir eifrig den Hof machen und hatte die größte Freude, wenn sich manches Mal der eine oder andere von einem Rivalen zurückgedrängt glaubte und ihm mit der Faust zu beweisen suchte, dass er der Bevorzugte sei.«
Günter Goepfert berichtet von einer Begegnung mit Anna Kaltenbach, der Tochter des damaligen Besitzers der Floriansmühle. Sie war erst zehn Jahre alt, als Lena Christ dort im Dienst stand. Obwohl es sich nur um einen relativ kurzen Zeitraum gehandelt hatte, konnte sich die mittlerweile alte Dame immer noch gut an Lena erinnern. Die Gäste hätten sie gern gehabt und wegen ihres anmutigen wippenden Gangs »Bachstelzerl« genannt. Goepfert gibt in diesem Zusammenhang noch eine eigenartige Begebenheit wieder: Am Ende des Ersten Weltkriegs sei Lena Christ einmal in Begleitung des Bibliothekars und späteren Direktors der Münchner Bibliothek, Hans Ludwig Held, in der Floriansmühle erschienen und habe signalisiert, dass
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