Lena Christ - die Glueckssucherin
weil sie sich den ganzen Tag mit den Stimmen ihrer Schülerinnen ärgern und plagen müsste. Das sei Strafe genug. Eine Zeit lang überwogen für Lena die positiven Erfahrungen, die sie im Rahmen des Musikunterrichts machte, und drängten ihr Unbehagen in den Hintergrund. Es war beglückend, auf der Bühne zu stehen, etwas von sich preiszugeben und dafür gelobt zu werden. Während der Fastnacht wurden Singspiele und Theaterstücke aufgeführt, bei denen sie Hauptrollen spielte und sang. Am wichtigsten Festtag des ganzen Jahres, dem Tag des heiligen Josef, war sie sehr nervös, doch Schwester Cäcilia beruhigte sie: »Mädl, wenn du morgen so gut singst, hebst die ganze Pfarrkirche in den Himmel.«
Es war der Tag, an dem der Bischof die Einkleidung der »jungen Gottesbräute« vornahm. Zunächst verlief alles wie einstudiert, doch als sich die Novizinnen auf den Boden warfen und mit einem schwarzen Tuch bedeckt wurden, um ihre Abkehr von der Welt zu manifestieren, spürte Lena Widerstand in sich aufkommen. Der wurde immer größer, und als der Bischof beim Gelübde freiwilliger Armut, steter Keuschheit und blinden Gehorsams einer nach der anderen das Haar abschnitt, rebellierte alles in ihr und steigerte sich zu einem Gefühl des Grauens. Wie gelähmt verfolgte sie das Geschehen und hätte ohne die Wachsamkeit Schwester Cäcilias beinahe ihren Einsatz verpasst. Als die Feier zu Ende war, bedankte sie sich bei ihr und kündigte ihr an, bestimmt keine Klosterfrau zu werden. Sie wollte ihr schönes Haar auf keinen Fall opfern. Nachts träumte sie sogar davon. Es waren schreckliche Albträume.
Während der drei Tage dauernden Festlichkeiten kam Lena auch mit den Patienten, den »Pfleglingen« zusammen, für die es Ausnahmeregeln gab, sodass sie teilnehmen durften. Der Blick, den Lena Christ in ihren Erinnerungen auf sie wirft, ist ein unbarmherziger, der dem damaligen Zeitgeist entsprach. »Viele bösartige und heimtückische Geschöpfe« seien unter ihnen gewesen, die man in finstere Zellen sperren und mit Zwangsjacken und Hungerkuren domestizieren musste. Mitleid war hier fehl am Platz, doch es gab eine Ausnahme: ein zwölfjähriges Mädchen, das aus vornehmer Familie stammte. Lena Christ beschreibt die kleine Margret, von der sie sich stark angezogen fühlte, sehr genau: das zarte, milchweiße Gesicht, die großen braunen Augen, die erschrocken in die Welt schauten, das kastanienbraune Haar, das nicht zu bändigen war, sodass sich im Lauf des Tages immer mehr Locken aus der streng zurückgekämmten Frisur herauslösten und das Gesicht lieblich umringelten. Sie sei sehr klug und fantasievoll gewesen, berichtet Lena Christ, und habe sich strikt geweigert, in einem religiösen Buch zu lesen. Dafür wurde sie streng bestraft. Sie wurde geschlagen, sie musste die härtesten Arbeiten verrichten, man ließ sie hungern, doch es half nichts. Sie ertrug alles, klagte nie, folgte dem Unterricht, doch bei religiösen Themen blieb sie stumm. Schließlich wurde sie krank und starb kurz vor Lenas Austritt aus dem Kloster.
Dieser deutete sich beim zweiten Weihnachtsfest an, das sie dort erlebte, also im Dezember 1899. Lena hatte von ihrer Mutter ein Weihnachtspaket erhalten. Zu den Geschenken gehörte auch eine schwarze Kleiderschürze mit langen Ärmeln. Voller Freude hatte Lena dieses Kleidungsstück, das sie sich gewünscht hatte, ausgepackt. Noch bevor sie es anprobieren konnte, befahl ihr die Präfektin, die Schürze ins Nähzimmer zu bringen, damit zwei kleine daraus geschneidert würden. Das erfordere die »heilige Armut«. Doch Lena war nicht bereit, auf das schöne Stück zu verzichten, und versteckte es auf dem Dachboden. Jeden Tag schaute sie danach. Das tat ihr gut und erinnerte sie ein wenig an ihre verbotenen Besuche in der Künikammer. Irgendwann konnte sie der Versuchung nicht länger widerstehen, holte die Schürze aus dem Versteck, zog sie an und betrachtete sich in der blinden Fensterscheibe des Speichers. Ein lauter Ruf ihres Namens riss sie aus ihrer Versunkenheit. Sie solle sofort zur Probe für das Weihnachtsfestspiel kommen. Vergeblich versuchte sie, die Schürze schnell auszuziehen, die Knöpfe auf dem Rücken hinderten sie daran. Es kam, wie es kommen musste, sie wurde von der Präfektin entdeckt. Diese schlug ihr ins Gesicht und führte sie zum Superior, der entschied, dass sie das Kloster verlassen musste. Da die Mutter ihren Besuch zu der Veranstaltung angekündigt hatte, gestattete man ihr, noch so
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