Lena Christ - die Glueckssucherin
Wirtsleni ihre Verse und Gstanzln zum Besten gab, hörten alle gebannt zu.
25 Neue Pinakothek München, 1911
Ein oder mehrere Gegenüber benötigte sie immer. Erst später reichten ihr die imaginierten, ganz zum Schluss weder die einen noch die anderen. Auslöser und Begleiter ihrer Fantasie waren schöne Dinge: Sie umgab sich gern mit Kostbarkeiten und Kunst. Daher war die Künikammer daheim in Glonn ein bevorzugter Ort. All die Preziosen, die dort verwahrt wurden, ließen sie davon träumen, dass es noch eine andere Welt geben musste als die alltägliche. Eine Welt, in der ihre Sehnsucht nach Glück und Schönheit als existenzielles Bedürfnis anerkannt wurde. Sie fühlte sich darin geborgen. Auch die Neue Pinakothek, in der die Kunstwerke bedeutender Maler und Bildhauer ausgestellt waren, besaß für die Schriftstellerin eine schützende Aura.
Sie musste kein Thema suchen, sie wusste, warum und was sie schreiben wollte, verspürte die innere Notwendigkeit, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Dafür gab es mehrere Gründe, primär den der Selbstvergewisserung, wie auch bei ihrer Zeitgenossin Franziska zu Reventlow. Was sie beim Schreiben von Ellen Olestjerne empfand – von der Verzweiflung bis zur Zufriedenheit, ja sogar zum Glück –, hat sie in Tagebuchaufzeichnungen und Briefen notiert. Im November 1902 triumphierte sie: »Roman fertig. In einer Art glückseligem Rausch. Was für eine Unsumme von Verstimmtheit, Nervosität, Unruhe etc. sind seit dem Ende des Romans von mir weg. – Möchte den ganzen Tag singen.«
Solche Äußerungen sind von Lena Christ nicht überliefert. Wie sie zum Schreiben stand, wie sie ihre Arbeit meisterte, lässt sich nur aus den Augenzeugenberichten ihres Ehemannes und ihrer ältesten Tochter rekonstruieren. Ein wichtiges Motiv war die Rettung ihrer Lebensgeschichte vor dem Vergessen. Sie sollte festgehalten werden, nicht einfach irgendwann mit ihr verschwinden. Das Schreiben tat weh, entlastete nicht, sondern wühlte wieder auf. Da begann sie einige Dinge – Fakten und Schicksale wie das Ende ihrer ersten Ehe – für ihren Text zu verändern. Zunächst nur, um sich vom Schmerz abzulenken, dessen Wucht sie unterschätzt hatte. Doch damit veränderte sich auch ihre Rolle: Sie war nicht länger nur Teil der Geschichte, Spielfigur, Protokollantin, sondern auf einmal Schöpferin. Nur durch eine kleine Modifikation. Wie konnte es sein, dass diese ein ganzes Erdbeben auslöste? Zwangsläufig tauchte bald die Frage auf: Wenn sie durch eine winzige Abwandlung so große Macht auf ihre Geschichte ausüben konnte, war es im wirklichen Leben dann auch möglich? Oder versperrte ihr das Schicksal diese Einflussnahme, wie sie es seit frühester Kindheit gelernt hatte?
Das Schreiben hatte ihr Kraft und Mut verliehen: Sie würde die Rolle der Schöpferin in Zukunft überall spielen, wenn man sie lassen würde. Sie fühlte sich dazu bestimmt, den Kampf gegen Gleichgültigkeit und Vergessen aufzunehmen. Gleichgültigkeit fürchtete sie mehr als Gewalt. Lange hatte sie nicht gewusst, wie sie sich dagegen wehren konnte. Mit dem Schreiben hatte sie eine geeignete Waffe gefunden – aber würde diese stark genug sein und ihr einen Weg bahnen? Fragen, die sie beiseiteschob, wenn sie von ihnen bedrängt wurde. Sie wollte diese Waffe so lange benutzen, wie sie konnte. Noch war sie erst am Anfang. Jetzt galt es, den Veränderungen nachzuspüren, die sie selbst in sich durchmachte. Die wichtigste beim Schreiben der Erinnerungen einer Überflüssigen bestand darin, dass sie ihre Überflüssigkeit auf einmal als Chance begriff: Wer überflüssig war, für den war keine Aufgabe, keine Rolle vorgesehen – also auch kein fester Platz. Das bedeutete die Möglichkeit, selbst frei zu wählen, womit sie die Leerstelle füllte. Sie hatte sich fürs Schreiben entschieden. Eine neue Identität verlangte nach einem neuen Namen. Mit dem Erscheinen der Erinnerungen einer Überflüssigen nannte sich Magdalena Leix, geborene Pichler, offiziell Lena Christ – nach ihrem Vater. Sie nutzte das Schreiben als Mittel, sich neu zu erschaffen, und unterstrich diesen Schöpfungsprozess durch die Namenswahl.
Die eigenen Erfahrungen, die Lena Christ in ihre Literatur einfließen lässt, bestehen vor allem in den Beziehungen zu Vater und Mutter und in der Rolle des unehelichen Kindes. Mathias Bichler und die Rumplhanni sind uneheliche Kinder. Mathias Bichler lernt seinen Vater – einen Schausteller – nie kennen, Hanni
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