Lenas Flucht
was Sie in jener Nacht erlebt haben?«
»Ich habe nichts dagegen«, antwortete Walja. »Die Sache muß aufgeklärt werden. Ich weiß, daß Sie bei der Miliz Anzeige erstattet haben. Das haben Sie richtig gemacht. Sie hätten es nur nicht auf unserem Revier, sondern bei einer höheren Instanz tun sollen.«
Als Lena Waljas stockenden Bericht noch einmal hörte, überzeugte sie sich endgültig davon, daß das Ganze kein Zufall sein konnte. Außer vielleicht der Tatsache, daß sie weggelaufen war. Die würden keine Ruhe geben. Auch der Krankenwagen, den sie aus dem Supermarkt auf der Schmidtstraße beobachtet hatte, war derselbe und nicht irgendein anderer. Bisher hatte sie einfach Glück gehabt. Das mußte nicht so bleiben. Wenn sie nicht länger Zielscheibe sein, sondern das Spiel mitspielen wollte, mußte sie etwas unternehmen.
»Vieles verstehe ich einfach nicht«, hörte sie wie aus weiter Ferne Waljas Stimme. »Na schön, es ist ein Irrtum passiert, eine Unachtsamkeit. Keiner will die Verantwortungdafür übernehmen. Aber warum haben sie dann nach Ihnen gesucht? Und warum wurde Simakow entlassen?«
»Einen Moment, meine Damen!« Es war Goscha, der ihnen mit großer Geste Schweigen gebot. »Etwa vor einem Jahr habe ich im Fernsehen eine Sendung gesehen. Irgendein hohes Tier, den Namen habe ich vergessen, berichtete von Präparaten, die aus ungeborenen Kindern hergestellt werden. Das heißt, aus Embryos, die bei einer Schwangerschaftsunterbrechung abgehen. Auch dieses Ding soll dafür verwendet werden – wie heißt es doch gleich? Na, der Sack, in dem das Kind liegt.«
»Die Gebärmutter!« warf Walja ein.
»Richtig, die Plazenta. Auf diese Live-Sendung komme ich deshalb, weil der Moderator die moralische Seite der Sache besprechen wollte und die Zuschauer aufforderte, ihre Meinung zu sagen. Das war natürlich interessant. Es gab jede Menge Anrufe, und wißt ihr, was die meisten gesagt haben? Der Preis des Präparats sei unmoralisch, weil für den Normalbürger zu hoch. Außerdem wurde gefragt, gegen welche Krankheiten es hilft und wo man es bekommen kann. Aber nicht einem einzigen verdammten Anrufer ist eingefallen, daß es eine Niedertracht ist, ungeborene Kinder zu Medikamenten zu verarbeiten.«
»Du meine Güte!« rief Walja aus. »Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen? Davon habe ich auch schon gehört. Früher wurden mit solchen Präparaten ZK-Mitglieder und Popstars behandelt. Heute bekommen sie wahrscheinlich die superreichen Neuen Russen.«
»Lena, hast du Krotow angerufen?« fragte Goscha.
»Ich habe mich gestern abend mit ihm getroffen. Er sagt: Kein Hinweis auf ein Verbrechen.«
»Na prima! Da greifen sie sich eine Frau, geben ihr Schlafmittel, jagen sie durch ganz Moskau« – Goscha ließ einen gellenden Pfiff hören –, »und bitteschön: Kein Hinweis auf ein Verbrechen!«
»Um so ein Präparat herzustellen, braucht man ein Laboratorium«,meinte Lena nachdenklich. »Es wäre nur logisch, wenn es sich direkt im Krankenhaus befindet. Dort ist es ruhig, und es braucht nichts hin und her transportiert zu werden. Walja, was meinen Sie, unterscheidet sich das von einem gewöhnlichen Labor, das jedes Krankenhaus hat?«
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Walja achselzuckend. »Aber es müßte einen Kühlschrank haben, an den nicht jeder rankommt. Und irgendwelche besonderen Geräte bestimmt auch. Obwohl … Wenn davon offen im Fernsehen gesprochen und dafür sogar geworben wird, dann ist es legal. Es wird wohl in der ganzen zivilisierten Welt verboten sein, aber bei uns in Rußland ist es erlaubt.«
»Wenn das alles legal wäre«, warf Goscha ein, »dann würden sie es in einer seriösen Moskauer Klink machen und niemanden mit Gewalt dorthin schleppen.«
»Ich habe ihnen die Suppe gründlich versalzen«, resümierte Lena nachdenklich. »Die lassen das nicht auf sich beruhen …«
Gegen halb sechs Uhr abends hielt der weiße Wolga von Goscha Galizyn vor einem Kiosk. Goscha, mit kurzer Lederjacke und langem weißem Schal sprang aus dem Wagen und erstand eine Schachtel Importpralinen.
Nur wenige Meter weiter bog der Wolga ab und fuhr in den Hof eines langen Gebäudes mit zahlreichen Aufgängen.
»Setz dich auf den Rücksitz und wart auf mich«, sagte Goscha zu Lena.
Mit den Pralinen unter der Jacke bog er um das Haus und nahm den ersten Eingang mit der Aufschrift »Gynäkologie«.
Die betagte Dame an der Anmeldung las einen Liebesroman. Ihre Brille war ihr bis auf die
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