Lenas Flucht
können, schlummerte Lena ein.
Achtes Kapitel
Sie erwachte davon, daß der Dackel Pinja die Vorderpfoten auf ihre Bettkante stützte und ihr das Gesicht leckte.
»Na, mein Kleiner, willst du raus?« fragte Lena und streckte sich.
Der Hund wedelte aus aller Kraft mit dem Schwanz.
Tante Soja trank bereits in der Küche ihren Tee und las die »Sowjetskaja Rossija«.
Lena wusch sich, putzte die Zähne, musterte ihr Spiegelbild und sagte hörbar zu sich selbst: »Du siehst heute gar nicht schlecht aus, gar nicht schlecht!« Und lächelte sich selber zu.
»Was redest du da, Kindchen?« rief Tante Soja aus der Küche.
»Ich sage, daß ich gar nicht schlecht aussehe!« erklärte ihr Lena.
»Du bist eine wahre Schönheit.« Tante Soja hatte unerwartet die Zeitung weggelegt und war in der Tür des Badezimmers erschienen. »Unserer Lisa, deiner Mutter, wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Lena umarmte die Tante und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich hab’ dich sehr lieb.«
Als sie aus der Haustür trat, schaute sich Lena um. Von einem Krankenwagen war weit und breit nichts zu sehen. Das konnte auch nicht sein. Wahrscheinlich hatten sie genug von der Verfolgungsjagd und ließen von ihr ab. Letzten Endes gab es gar kein Motiv.
Pinja zerrte sie mit aller Kraft, die er in seinem Alter noch besaß, in den Nachbarhof. Dort ging wahrscheinlich seine späte Liebe, die junge Pudelin Klara, spazieren. Er winselte vor Leidenschaft, und Lena ließ sich fortziehen. Im Nachbarhof angekommen, machte sie den Hund los und setzte sich auf eine Bank. Sie wußte, daß Pinjas Morgenspaziergänge länger dauerten, und hatte sich daher vorsorglich das Manuskript von Josephine Wordstars Erzählung mitgenommen, um es noch einmal zu lesen und schon ein wenig an der Übersetzung zu arbeiten.
Soja hörte nicht, daß sich ein Dietrich in ihrem Schloß drehte und Männerstimmen auf ihrem Korridor ertönten. Das Küchenradio dröhnte mit voller Lautstärke. Von ihrer Zeitung schaute sie erst auf, als in der Küchentür ein jungerMann in kurzem weißem Kittel auftauchte, den er über eine Lederjacke geworfen hatte.
Soja erschrak nicht, sie wunderte sich nicht einmal. Sie glaubte, das seien die Träger, die ihr Küchenbüfett abholen wollten, und Lena, vom Spaziergang zurück, habe ihnen die Tür geöffnet. Auch an dem weißen Kittel fand sie nichts Außergewöhnliches. Was die Leute heutzutage alles anzogen …
Als der Fahrer und Kolja feststellten, daß in den Zimmern niemand war, kamen auch sie in die Küche. Dort stand der Rotschopf und blickte auf die Alte.
»Was steht ihr herum, Genossen, fangt an«, befahl Soja. Als erster reagierte der Fahrer.
»Erst einmal guten Morgen, Großmutter«, sagte er.
»Guten Morgen, guten Morgen«, gab Tante Soja ungeduldig zurück. »Worauf wartet ihr? Nehmt ihr das Büfett nun mit oder nicht?«
Nun kapierte der Rotschopf endlich.
»Natürlich, Großmutter, keine Sorge, deswegen sind wir ja hier. Und wo ist die junge Frau?«
»Wozu braucht ihr die? Macht euch an die Arbeit!«
»Ist sie nun hier oder nicht?« warf der Fahrer gereizt ein.
»Natürlich ist sie hier, wer hat euch denn die Tür aufgemacht? Aber jetzt Schluß mit der Diskussion, fangt endlich an, Genossen!« Soja wurde langsam unwirsch. Sie begriff überhaupt nichts. Aber als sie sah, daß die drei jungen Männer sich nicht von der Stelle rührten, wurde es ihr langsam unbehaglich. Mit lauter Stimme rief sie: »Lena! Lena! Wo bist du denn?«
Keine Antwort.
»Wie seid ihr überhaupt hier hereingekommen?« Die alte Frau stand auf, legte ihre Zeitung beiseite und funkelte die drei mit ihrem strengsten Funktionärsblick an.
»Die Tür stand offen«, meinte der Rotschopf, als wollte er sich entschuldigen, und trat dabei ganz dicht an Soja heran. »Was ist denn nun mit Lena?« Die alte Frau wurde blaß und wich zurück.
»Was wollt ihr von ihr?«
Der Fahrer trat hinter sie.
»Hör mal, du alte Schachtel. Wenn du uns jetzt nicht sofort sagst, wo sie ist, reiß’ ich dir den Kopf ab.«
Kolja sah, daß der Fahrer eine Schnur in der Hand hielt. Ihm wurde angst. Gleich würde er der Alten den Garaus machen. Ja, sie hatten es satt und waren stinksauer, daß sie nun schon fast 48 Stunden lang dieses elende schwangere Weib nicht greifen konnten. Aber er, Kolja, war kein Verbrecher. Er wollte nur schnell ans große Geld …
Die alte Frau machte eine Handbewegung zum Telefon auf dem Küchentisch, aber der Rotschopf packte sie und preßte ihr
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