Lenas Flucht
Handgelenk zusammen.
»Wo ist sie?« fragte er noch einmal und verdrehte der alten Frau den Arm.
Sojas Gesicht wurde kreidebleich.
»Aus mir bekommt ihr kein Wort heraus!« Soja stöhnte unter Schmerzen und blickte dem Rotschopf gerade ins Gesicht.
»Du wirst schon singen, du alte Vettel.« Mit einer schnellen Bewegung legte der Fahrer der Frau die Schlinge um den Hals.
»Sie ist weggefahren«, flüsterte Soja, nach Luft ringend, »schon vor zwei Stunden.«
»Wieso hast du dann nach ihr gerufen?« fragte der Rotschopf einschmeichelnd und blickte die alte Frau drohend an.
»Ich hatte es vergessen«, antwortete sie so leise wie noch nie.
Hoffentlich kommt das Mädchen jetzt nicht zurück, ging es ihr durch den Kopf wie eine Beschwörung. Lieber Gott, mach, daß Lena jetzt nicht zurückkommt, lieber Gott, hilf ihr!
Dem Rotschopf wurde plötzlich vor Wut ganz schwarz vor Augen. Wie von Sinnen rammte er der Greisin sein Knie in die Brust. Die krümmte sich und fiel direkt auf ihn. DerFahrer ließ die Schnur nicht los, die sich tief in den faltigen Hals einschnitt. Der Rotschopf aber war nicht mehr zu halten. Mit seiner Fußspitze drehte er sie auf den Rücken und trat dann wild auf sie ein, wo er sie gerade traf – in den Bauch, in die Brust, ins Gesicht.
Der Schmerz war so schrecklich, so unglaublich grausam, daß Soja glaubte, das alles geschehe nicht mit ihr.
Der Rotschopf kam erst zur Besinnung, als der Fahrer ihn anbrüllte: »Bist du verrückt geworden?! Sie ist tot!«
Schwer atmend hielt er inne.
»Los, Kolja«, kommandierte er nun wieder ganz sachlich, »hol ein Bettlaken aus dem Schrank.«
Kolja blickte erschrocken von einem zum anderen.
»Warum habt ihr sie umgebracht? Was machen wir denn jetzt?«
»Tu, was ich dir sage, Blödmann. Hol ein Laken!«
»Woher denn?« Kolja konnte nicht klar denken.
Der Fahrer lief ins Schlafzimmer und riß das Laken aus dem noch ungemachten Bett. Die Decke legte er ordentlich darüber.
»Das wird eine Trage. Hebt sie hoch! Legt sie auf das Laken!« kommandierte der Rotschopf.
»Was? Wohin?« murmelte Kolja, faßte die gekrümmte Gestalt dann aber doch an und legte sie auf das Bettuch.
Mit einem Küchenhandtuch, das er vom Haken riß, wischte der Rotschopf mit raschen Bewegungen der Toten das Blut aus dem Gesicht und einige Blutspritzer vom Linoleum. Das Handtuch stopfte er unter das Laken, mit dem der Leichnam jetzt bis zum Kinn bedeckt war. Der Rotschopf ließ den Blick prüfend durch die Küche gleiten und sagte dann vollkommen ruhig:
»Das wäre erledigt, Brüder. Verduften wir.«
Sie warfen die Tür hinter sich zu und warteten in aller Ruhe auf den Fahrstuhl. Wenn sie jemandem begegneten, konnte der sie durchaus für Männer des MedizinischenDienstes halten, die auf einen Notruf herbeigeeilt waren. Der Frau ist schlecht geworden, sie bringen sie, so schnell es geht, ins Krankenhaus. Wem sollten da Zweifel kommen?
Lena blieb fast eine Stunde mit Pinja draußen. Der verspielte Hund wollte absolut nicht nach Hause. Schließlich ließ er sich doch wieder an die Leine nehmen. Lena lief rasch in den Supermarkt, der jenseits der Straße lag.
Als sie an der Kasse kurz warten mußte, schweifte ihr Blick durch die großen Glasfenster über die Schmidtstraße. Hier fuhr noch die Straßenbahn, die man fast völlig aus Moskau verbannt hatte. Sie klingelte, stand noch ein Weilchen und zog dann langsam an. Ihr folgte ein Krankenwagen.
Während Lena mit ihrer Einkaufstüte zu ihrem Haus ging, mit dem Lift nach oben fuhr und die Tür aufschloß, sagte sie sich immer wieder: Hör jetzt auf und beruhige dich endlich. Sonst wirst du noch verrückt. Es gibt nicht nur einen Krankenwagen in Moskau!
Tante Soja war nicht da. Pinja reagierte sehr merkwürdig: Er bellte, fletschte die Zähne, rannte wie wild durch die Wohnung und hielt immer wieder in der Küche inne, wo er den Boden intensiv beschnupperte und dann jämmerlich aufheulte. Lena meinte, der Hund sei von dem ausgiebigen Spiel mit der Pudelin Klara so aufgedreht.
Der Krankenwagen bog in die Dmitrowsker Chaussee ein. Kolja zitterte wie im Fieber. Sie hatten eine alte Frau umgebracht, die ihnen in die Quere gekommen war. Jetzt war er an einem Mord beteiligt. Er konnte die entmenschte Visage des Rotschopfs nicht vergessen, der die am Boden Liegende mit Fußtritten bearbeitete hatte, als das Leben schon aus ihr gewichen war.
Schwerverbrecher sind das. Von denen muß ich weg, schoß es ihm durch den Kopf.
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