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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Muchina
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werden wir beide, meine Teuerste!« Ich stellte mir vor, dass Andrei in voller Größe vor mir stand. Mit einem furchtlosen, fast dreisten Gesichtsausdruck. Schlank, schön, eine gelockte Haarsträhne fällt ihm in die hohe Stirn. Mein Gott, warum sieht Wowka ihm nicht ähnlich, und sogleich tauchte Wowka in meiner Vorstellung auf. Da war er: groß, schlank, so gut. Warum liebt er mich nicht, so sehr wünsche ich mir, dass er mich so lieben würde wie Serjoscha Soja. Bin doch nicht schlechter als Soja.
    In der Theatervorstellung sitzen wir nebeneinander. Wir sehen »Das Glas Wasser« 29 . Ich blicke verstohlen zu ihm. Da sitzt er ganz nah bei mir, so vertraut und so fremd, ich will so sehr meine Hand auf seine legen. Aber er nimmt mich gar nicht wahr. Er ist von den Gescheh­nis­sen auf der Bühne gefesselt.
    Da ist er mit einer abgetragenen Kappe auf den wirren Haaren. Er liegt auf dem Bauch, das Gesicht auf die Hände gestützt, und blickt nachdenklich irgendwohin. Und der Zug rast immer weiter. Die großen Güterwaggons poltern. Wir fahren in die Stadt. Ich finde es schön, auf einer der oberen hölzernen Liegen auf der Seite zu liegen. Hinter meinem Nachbarn liegt Wowka, neben ihm schläft Mischa Iljaschew.
    Da dreht er sich zu mir. Und sein nachdenklicher Gesichtsausdruck verwandelt sich in ein Lächeln. Ein glückliches, kindliches Lächeln. Er sagt nichts zu mir, er schaut mich an und lächelt breit, freundschaftlich. So kann nur ein Kamerad lächeln, der seinem Freund zeigen will, was gerade in seiner Seele vorgeht. Ich blickte in seine glücklichen, leuchtenden Augen und lächelte ebenso glücklich. Selten war Wowa in einem solchen Gemütszustand wie jetzt gerade. Noch eine Weile schauen wir uns an, und der eine versteht den anderen ohne Worte.
    Da steht er an der Straßenecke mit seinen Freunden. Komplett in Weiß steht er da und lutscht ein »Eskimo«-Eis. So ruhig, so gleichgültig allem gegenüber, als könnte ihn nichts auf der Welt berühren.
    Und da ist das ehemalige Büro des Schulleiters. Ich stehe am Ofen, Wowa sitzt auf dem Sofa neben meiner Mama. Und wir schauen einander an, und er lächelt wieder dieses Lächeln, das ich schon kenne, und ich weiß nicht, was er damit ausdrücken will. Entweder ist er wieder glücklich, oder er freut sich, eine »alte ­Bekannte« zu sehen, oder über etwas anderes …

    Flugzeuglärm unterbricht meine Grübeleien. Ich kehre zur Wirklichkeit zurück. Vom Hügel steigen die Schüler aus der Schule Nr. 15 in lauten Scharen hinunter. Sie singen irgendein Lied, wiederholen dabei die ganze Zeit »Stampf, staaampf!«. Sie sind auf dem Weg zum Fuß des Hügels, auf dem ich sitze. Jetzt kann ich den Text dieses Liedes hören. Ein derbes, anzügliches Lied. Man könnte denken, hier haben sich Raufbolde von der ehemaligen Ligowka 30 versammelt. Danach stimmten sie ein anderes Lied an. Schon besser. Es hat mir sogar gefallen. Folgende Zeilen habe ich mir gemerkt:
    Gleit dahin, unser Gaunerboot! Ha ha!
    Wo trägt dich die Strömung hin?
    So ist das Leben der Diebe! Ha ha!
    Niemand vergeht darin.

    Wir haben kein Dach, stattdessen ein Boot! Ha ha!
    Mit ihm trägt uns die Strömung dahin.
    Geld, Mädchen und Wodka! Ha ha!
    Davor haben wir Respekt immerhin!
    Alle waren dabei: Saschka, Sorka, Andrei, Schenka, Nader, Igor, Ljowka.
    Übrigens, da wir von Nader sprechen. Nader ist kein Spitzname, es ist tatsächlich sein echter Name. Er heißt Nader, und sein Nachname ist Awschar. Von der Nationalität her ist er Perser. Er sieht aus wie 18, sogar 19, aber es stellte sich heraus, dass er erst vor Kurzem 16 geworden ist. Er ist groß, muskulös, gut gebaut. Ein dunkelhäutiges, knochiges Gesicht mit einer großen östlichen Nase, auf der ein kleiner Höcker zu sehen ist. Schwarze östliche Augen, schwarze lockige Haare. Nader trägt fast immer eine Kappe, und sie steht ihm sehr, bei niemandem sieht sie so gut aus. Überhaupt ist Nader ein sehr hübscher Kerl. Er sieht einem Spanier sehr ähnlich. Von Nelja erfuhr ich übrigens später, sie gehen in dieselbe Klasse, dass Nader ein ausgesprochen netter, ehrlicher Junge ist. Manchmal geht er grob mit Freunden um. Aber das ist nur manchmal.
    Ich hörte Schreie, die Jungs gingen auseinander, eine Schlägerei begann. Sorka und Schenka sind aneinandergeraten. Zwei Worte über Sorka. Groß, schlank, ein ziemlich hübscher Jude. Ein Flegel höchsten Grades. Vollkommen abgebrüht. Er ist unverschämt und dreist im Umgang mit Mädchen. Wenn

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