Lenas Tagebuch
gehören.
Nachts schlief ich nicht, bis zum Morgen hatte ich alles gepackt. Und ich beschloss, morgen gleich zur Öffnungszeit in die Kantine zu gehen und die Nährmittelmarken 102
Und genau deshalb kam ich nicht mehr weg. Als ich um zwölf zum Evakopunkt kam, stand dort eine unglaublich lange Schlange. Die Anmeldung war in vollem Gange, aber man konnte sich nur für den 9. anmelden. Ich beschloss, mich für den 9. anzumelden. Aber um zwei wurde die Anmeldung beendet, sie sagten, man könne sich heute nicht mehr anmelden. Kommt morgen um neun wieder. Das war mein zweiter Fehler: Ich glaubte das und ging an dem Tag nicht mehr hin. Aber um fünf Uhr konnte man sich für den 8. anmelden, und die, die neben mir in der Schlange gestanden hatten, waren dort und meldeten sich an. Ich sah sie am 8., als sie schon ihre Papiere ausfüllten. Wie ärgerlich! Mein dritter Fehler bestand darin, am 9. erst zu acht Uhr hinzugehen, da stand schon eine lange Schlange, und als wir Nummern erhielten, war ich die 236. An dem Tag wurden nur zehn Leute angemeldet. Ich stand bis um zwei in der Schlange, ging dann weg, kehrte um sechs Uhr abends zurück und stand bis acht Uhr abends dort herum, aber an dem Tag konnte sich nicht ein einziger Mensch mehr anmelden.
Ich lernte aus dieser bitteren Erfahrung und schlief in der Nacht zum 9. gar nicht, obwohl ich von den letzten Tagen schon ganz erschöpft war. Ich ging hin, sobald es zu dämmern anfing. Ich stand um fünf Uhr früh in der Schlange, ich war die Nummer 78. Hätte man sich an dem Tag anmelden können, so hätte ich mich natürlich angemeldet und wäre abgereist, aber man konnte sich wieder nicht anmelden. Wir standen den ganzen Tag in der Schlange, und man erklärte uns, heute sei keine Anmeldung möglich, und außerdem wisse man nicht, wann es wieder ginge. Aber wir, die am meisten verzweifelt waren und wie ich schon alles verkauft und gepackt, die Schlussrechnung bekommen und sogar zum Teil die Lebensmittelkarten abgegeben hatten, wir entschieden, komme, was da wolle, bis zum Abend zu bleiben. Vielleicht gab es plötzlich für irgendeinen Transport doch noch ein paar freie Plätze. Aber dann wurde uns offiziell verkündet, die Evakuierung sei wegen der warmen Frühlingstage und der großen Überlastung der letzten Militärzüge vorübergehend völlig ausgesetzt. Da blieb uns nichts anderes übrig, als auseinanderzugehen.
Als ich nach draußen ging, schwankte ich. Ich schaffte es kaum, nach Hause zu gehen. Es war ein warmer, sonniger Frühlingstag. In der Sonne waren + 13 Grad. In den Straßen murmelten die Schmelzwasserbäche. Die Spatzen zwitscherten fröhlich, und im blauen, klaren Himmel sangen Vögel mit roten Flügeln. Aber mich machte das alles nicht froh, im Gegenteil, es verdarb mir die Laune. Wenn es noch ein wenig gefroren hätte, hätte ich vielleicht noch wegfahren können. Was für ein Ärger, alles habe ich verkauft, das ganze Zimmer auf den Kopf gestellt und auch noch aus Gorki endlich das lang erwartete Telegramm erhalten: »Fahr los. Schenja. Njura.« Da hatte ich mich schon ganz von Leningrad verabschiedet, und nun einfach so das: Bitte schön, alle aussteigen! Jetzt habe ich wieder nur 300 g Brot am Tag, die Nährmittelmarken sind alle schon abgeschnitten.
Aber was soll ich machen. Das ist halt mein Schicksal. Jetzt heißt es auf den Mai warten.
Gestern Abend ging ich zu Jakow Grigorjewitsch, erzählte ihm alles und bat ihn, mich in seinem Artel 103 unterzubringen. Er hatte schon mit seinem Vorgesetzten gesprochen, und dieser sagte, ich solle am 10. zu ihm kommen, er würde mich einstellen. Ich hatte mich jedoch in diesen Tagen so verausgabt, dass ich mich kaum auf den Beinen hielt. Heute ist der 10., aber ich schaffe es nicht dorthin. Ich werde morgen hingehen. Heute muss ich gut ausschlafen, umso mehr, weil es erst zwei Uhr mittags ist und ich schon mein ganzes Brot aufgegessen habe und bis morgen nichts Essbares mehr besitze. Und morgen wieder 300 g Brot, und das war’s.
Jetzt wird das Leben schwer werden. Das Zimmer ist mir ganz fremd geworden, auch die Sachen, die noch hier sind. Ich möchte sie nicht einmal berühren. Ich habe mich doch schon von ihnen verabschiedet, ich lasse sie hier.
Draußen ist vom Winter keine Spur mehr zu sehen. Heute Morgen war es diesig, schon den ganzen Tag schlägt der erste Frühlingsregen gegen mein Fenster und macht mich dadurch todtraurig. Die Schlitten sind weg, an ihrer Stelle sind Wagen aufgetaucht. Es
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