Lenas Tagebuch
mir einiges aus diesem Buch merken. Ich könnte natürlich um das ganze Buch bitten, aber ich nehme nur eine ganz beschränkte Menge an Dingen mit, an Büchern nur das Pflanzenbestimmungsbuch, und auch das ohne Einband. Der Einband ist zu schwer. Dann das Vogelalbum und »Vögel in der Natur«. Ich kann nicht ein ganzes Buch mehr mitnehmen. Deshalb möchte ich das, was mir besonders gefällt, in mein Tagebuch schreiben. Zeit habe ich im Moment noch. Den heutigen Tag muss ich irgendwie herumbringen, denn ab morgen werde ich wahrscheinlich schon arbeiten gehen. Heute ist ein wolkenloser und sonniger Tag. Das einzig Schlechte ist, dass ein kalter Wind weht.
Man denke nur! Heute ist schon der 13. April. April, Frühling. Die ganze Natur erwacht. Aber ich sehe hier keine Natur. Warte nur, ich werde nach Gorki fahren, da ist es noch wärmer, da ist der Himmel auch blau und auch Sonnenschein wie hier. Man denke nur, ich werde die Wolga sehen. Ich kann am Wolgaufer herumstromern. Wolga, Wolga! Neue Eindrücke, neue Menschen, neue Begegnungen, ein neues Leben. Oh, ich will so schnell wie möglich weg aus diesem verfluchten Leningrad. Natürlich ist das eine großartige, schöne Stadt, und ich habe mich sehr an sie gewöhnt. Aber ich kann sie nicht mehr sehen und schon gar nicht mehr lieben. Die Stadt, in der ich so viel Leid ertragen musste, in der ich alles verloren habe, was ich besaß. Die Stadt, in der ich Vollwaise geworden bin. Die Stadt, in der ich den ganzen Schrecken der Einsamkeit erfahren habe. Nein, an diese Stadt und ihren Namen werde ich mich mein ganzes Leben mit einem Schaudern im Herzen erinnern. Bald, bald werde ich von hier wegfahren, und ich hoffe, für immer.
Gerade höre ich im Radio, dass Grischa unter den Ausgezeichneten ist. Man denke nur, Grischa bekommt 100 000 Rubel als Prämie. Das ist doch Grischa Bolschakow 107 , der Jugendfreund meiner Mutter.
Heute habe ich von 300 g Brot und 140 g Trockenerbsen gelebt. Morgen werde ich nur 300 g Brot haben. Ich werde doch wohl morgen meine Arbeitsstelle antreten können?
Heute habe ich gepackt. Ich packte ein, packte hundert Mal um, und am Schluss hatte ich endlich, was ich wollte. Zwei Gepäckstücke: einen Koffer und ein Bündel, wobei man das Bündel auch in den Koffer legen kann, und dann habe ich nur ein Gepäckstück. In den Koffer habe ich auch alle Gerätschaften zum Essen gepackt, und es ist noch Platz im Koffer. Aber ich werde ihn frei lassen, wer weiß, was ich noch hineinlegen muss. Brot, Wurst oder andere Lebensmittel. Denn man denke nur, wie alles gekommen ist, das würde man so auf Anhieb gar nicht glauben. Ich bin allein, fahre in eine andere Stadt, bin 17 Jahre alt. Das ist schrecklich und süß zugleich. Süß, weil ich etwas fühle, was ich nie zuvor in meinem Leben gefühlt habe. Ich fühle eine vollkommene Freiheit, Freiheit der Gedanken, Freiheit des Handelns. Ich bin an nichts und niemand gebunden. Was ich will, das werde ich tun. Ich erlebe gerade einen ganz entscheidenden Moment in meinem Leben. Ich muss mich selbst entscheiden, wie ich handeln will, welchen Weg im Leben ich einschlagen will, für immer und ewig entscheiden. Ich kann hierbleiben, die Arbeitsstelle antreten, allein in meinem eigenen Zimmer wohnen bleiben. Das ist sehr verführerisch. Aber ich kann die Einsamkeit nicht ertragen, umgeben von fremden Menschen, denen ich gleichgültig bin. Nein, nein. Wäre ich etwas älter, würde ich vielleicht gerade diesen Weg wählen. Aber ich fühle mich noch nicht ganz erwachsen, aber natürlich auch nicht mehr als Kind. Nein, ich fühle, dass es für mich noch zu früh ist, ganz selbstständig zu leben, ich brauche noch Unterstützung. Und dann möchte ich mich an jemanden schmiegen. Ich möchte wenigstens ein bisschen Ersatz für die Fürsorge und Liebe jenes geliebten Menschen finden, den das Schicksal mir so mitleidlos genommen hat.
Ich weiß, dass ich in der Familie von Njura und Schenja keine Fremde sein werde. Ich darf sie auf keinen Fall in Verlegenheit bringen und keine Forderungen stellen. Das verstehe ich sehr gut. Ich werde nur vorübergehend zu ihrer Familie gehören, ich werde mein eigenes Geld verdienen und es in die Gemeinschaftskasse einbringen.
Aber mit der Zeit sollte ich mich bemühen, mein eigenes Zimmer zu bekommen und allein zu leben, ohne irgendwen zu stören. Das wird eine gute Zeit werden! Ich muss unter allen Umständen so lange am Leben bleiben!
15. April
Heute fuhren die
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