Lenas Tagebuch
einberufen, und schickten sie ins Nebenzimmer zur Gesundheitsuntersuchung. Lena war so aufgeregt, dass sie kein Wort herausbrachte, als sie nach Namen und Vatersnamen gefragt wurde. Sosehr sie auch versuchte, sich zusammenzureißen, begann sie zu schreien. Die Ärztin versuchte sie zu beruhigen. Sie brauche nicht zu weinen, da sie vielleicht schon allein wegen ihrer Augen für untauglich erklärt werde. Lena antwortete, dass es darum gar nicht gehe, sie könne sich einfach nicht mehr beherrschen. Kurz darauf kam der Augenarzt und nahm Lena als Erste dran. Sie wurde für untauglich erklärt, und man sagte ihr, sie sei frei. Lena ging nach Hause, aß ihr Brot mit Öl zu Ende, wärmte ihre Suppe auf und aß mit großem Genuss eineinhalb Teller fette, schmackhafte und – was am wichtigsten war – heiße Suppe.
Sie ging zu Jakow Grigorjewitsch, aber man sagte ihr, er sei auf Arbeit. Lena machte sich ans Sockenstopfen. Plötzlich klopfte es. Sie öffnete, und eine junge Frau stand vor ihr, dünn, mittelgroß. Sie trug eine Brille, eine braune Fellmütze mit Ohrenklappen, Stiefel, eine Wattejacke und wattierte Hosen. »Du kennst mich« – sie lächelte. Lena schaute sie an: Das ist doch Werotschka, Wera Miljutina 123 , Kameradin und Freundin meiner Mutter.
Lena bat sie herein, ließ sie auf der Truhe Platz nehmen und setzte sich neben sie. Wera blieb nicht lange bei Lena, aber in der kurzen Zeit erzählten sie einander sehr viel. Lena berichtete kurz, wie es ihr ergangen war. Wie sie in diesem Winter gelebt hatten, zuerst zu dritt, dann ohne Aka. Dann sei Mama gestorben. Wera verstand Lena sehr gut.
»Du armes Mädchen. Wie viel hast du durchmachen müssen. Aber verzage nicht, jetzt musst du dich nicht mehr lange quälen. Bald fährst du los, unterwegs wird – geb’s Gott – alles gut sein, du wirst zu Schenja kommen und ein neues Leben beginnen.«
Lena freute sich sehr, dass sich in ganz Leningrad immerhin ein ihr nahestehender Mensch gefunden hatte, eine Freundin ihrer Mutter.
Wera fragte besorgt, ob Lena allein fahre, und war beruhigt, als Lena ihr berichtete, sie werde zusammen mit einer Klassenkameradin und Freundin und deren Mutter fahren. Sie fragte: »Wie sieht Ninas Mama aus, ist sie kräftig, nicht geschwächt? Du musst Reisegefährten auswählen, auf die du dich verlassen kannst.« Überhaupt fragte Wera Lena sehr genau und besorgt über alles aus. Ob sie viele Sachen mitnehme. Ob sie noch Geld habe. Ob sie Freunde habe, ob ihr jemand helfe. Sie bat Lena, in den ersten zwei Tagen vorsichtig zu sein und nicht viel zu essen, sich nicht mit irgendeinem Brei den Magen zu verderben.
Anscheinend werden viele Menschen unterwegs krank oder sterben sogar, nur weil sie sich auf das Essen stürzen und sehr viel auf einmal essen, was für den Körper, der durch die lange Mangelernährung ausgezehrt ist, tödliche Folgen haben kann.
»Und auch wenn du übermenschliche Anstrengungen unternehmen musst, aber halte dich zurück, vor allem mit Brot. Denn am Bahnhof bekommst du ein Kilo Brot, und einige essen das noch am selben Tag auf. Tu das nicht. Einer meiner Bekannten ist nur deshalb gestorben, weil er zu viel gegessen hat, er stopfte sich mit Hirsebrei voll und aß zu viel Brot. Halte dich zurück und nimm andere an die Hand. Das wäre doch richtig ärgerlich. Nichts kann dümmer sein als ein solcher Tod. Die Bomben und Granaten und 1000 Tode zu überleben, nur um an einer zu großen Portion Brei zu verrecken.«
Weras Worte prägten sich Lena tief ein. Nein, auf so dumme Weise wollte sie nicht ums Leben kommen, und sie nahm sich fest vor, diesem Rat zu folgen und sich die ersten zwei Tage vor der verführerischen Überfülle an Essen in Acht zu nehmen. Nein, sie wollte nicht an einem Brei sterben. Lena fühlte, dass es qualvoll und schwer werden würde, sich zurückzuhalten. Aber auch diese Hürde wird sie irgendwie überwinden müssen.
Werotschka erzählte, sie arbeite im Moment als Kunstmalerin. Sie habe eine Arbeiterlebensmittelkarte, aber das genüge ihr nicht. Es ist gut, dass sie als Gegenleistung für ihre höllisch schwere Arbeit in einer besonderen Kantine Essen bekommt, auf besondere Marken. Sie fragte, ob von Mama noch Pinsel übrig seien. Lena gab ihr gerne alle Pinsel, Farben und übrigen Gerätschaften von Mama und sagte, ihr sei es viel lieber, wenn diese Sachen nicht irgendeinem Fremden wie Jakow Grigorjewitsch in die Hände gelangten, sondern einem Menschen, für den sie nicht nur
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