Lennox 03 - Der dunkle Schlaf
eine militärische Ausbildung erhalten hatten, wie man sie nur bei den Commandos oder anderen Spezialeinheiten bekam. Aus drei Minuten wurden vier, dann fünf. Ich nahm an, er hatte sich verdrückt, weil ihm klar war, dass dem Jäger in diesem Smog die gleiche Gefahr drohte wie dem Gejagten. Trotzdem wartete ich noch eine Minute. Er war kaltblütig gewesen, das musste ich ihm lassen, und Typen von der Sorte haben oft eine Menge Geduld.
Ich wollte mich gerade auf den Rückweg zur Hauptstraße machen, als ich ihn sah. Er stand einfach vor mir, als hätte er sich im Nebel plötzlich materialisiert, aber immer noch mehr ein Umriss als alles andere. In meinem Hauseingang sah er mich nicht. Er bewegte sich langsam, schwenkte den Lauf seiner halbautomatischen Pistole von links nach rechts, als wäre sie eine Taschenlampe. Mein Versteck befand sich gerade noch außerhalb seiner Sichtweite. Ich schob meine Hand in meine Jackentasche, doch ich hatte vergessen, dass ich schon seit Monaten nicht mehr mit einem Totschläger mit Federstahlgriff zur Arbeit ging. Gegen einen Gegner wie ihn sollte man nicht mit bloßen Händen antreten. Ich wog meine Möglichkeiten ab, doch in diesem Sekundenbruchteil der Unentschlossenheit wurde seine Gestalt wieder von der grauen Suppe verschluckt.
Ich wartete ein paar Sekunden, nachdem er vorbeigegangen war, öffnete meine Schnürsenkel und zog die Schuhe aus. Mit den Schuhen in der Hand schlich ich so schnell und so leise ich konnte die Gasse zurück zur Great Western Road und ließ meinen Tanzpartner weiter in der Gasse suchen. Ich schwor mir jedoch, dass wir noch einmal zusammen eine flotte Sohle aufs Parkett legen würden.
Aber dann würde ich führen.
***
Ich trug wieder passendes Schuhwerk, als ich zu meiner Bleibe zurückkehrte. Im Smog würde Mrs. White vom Esszimmerfenster aus nicht sehen, wie ich den Weg heraufkam, und ich hatte gehofft, unbemerkt in meine Räume hochzukommen, damit ich mir das Gesicht säubern konnte. Doch bei meinem Glück musste sie natürlich die Haustür in dem Moment öffnen, als ich davorstand.
»Mr. Lennox …«, sagte sie, erschrocken über mein Äußeres. »Was um alles in der Welt ist mit Ihnen passiert?«
»Der verdammte Nebel«, knurrte ich. »Verzeihen Sie den Ausdruck … Ich bin an der Bordsteinkante ausgerutscht und gegen einen Laternenpfahl geprallt.« Es war eine absolut glaubwürdige Ausrede; an diesem Morgen musste es Dutzende echter Unfälle geben, die sich genau so zugetragen hatten.
»Kommen Sie in die Küche«, befahl sie und führte mich mit fester Hand am Ellbogen. »Ich muss mir das genauer ansehen.«
Ich war ganz schön erledigt und folgte ihr ohne Widerstand. Sie rückte einen Stuhl vom Küchentisch weg und ließ mich darauf Platz nehmen. Ich verkniff dabei das Gesicht.
»Sind Sie noch irgendwo verletzt?«, fragte sie.
»Ich bin gestürzt, nachdem ich mir den Kopf angeschlagen habe, und mit der Seite auf dem Bordstein aufgekommen. Aber hauptsächlich ist es die Wange …« Ich betete inständig, dass sie mir meine Geschichte abkaufte. Fiona White hatte mich mit verschiedenen Kampftrophäen gesehen, einschließlich einer Auszeichnung, die ich sogar von der Glasgower Polizei persönlich erhalten hatte. Das war, so viel wusste ich, ihr Hauptgrund, weshalb sie Abstand zu mir halten wollte: meine Referenzen für meine Qualifikation als zwielichtige Figur.
Sie bereitete eine milde Lösung aus Antiseptikum und abgekochtem Wasser zu und betupfte damit die Wunde. Ich bemerkte, dass der Mulltupfer jedes Mal, wenn sie ihn in die Lösung tunkte, eine rosa Wolke ausspuckte.
»Ich glaube, das sollten Sie nähen lassen«, sagte sie stirnrunzelnd. Sie stellte sich vor mich und beugte sich zu mir, um mich aus einem anderen Winkel zu betrachten. Ihr Gesicht kam mir so nahe, dass ich einen schwachen Lavendelduft bemerkte und ihren Atem auf meinen Lippen spürte. Sie sah mir in die Augen, und plötzlich wirkte sie verlegen und richtete sich nüchtern auf; der Blick, den wir getauscht hatten, hatte etwas bedeutet. Oder auch nicht. Ich hatte Schmerzen und fühlte mich durcheinander wegen einer Menge Dinge, nicht zuletzt wegen Fiona White.
»Das kommt schon wieder in Ordnung«, erwiderte ich. »Wenn Sie Heftpflaster haben, reicht das.«
»Ich finde wirklich, Sie sollten das einem Arzt zeigen. Es ist genau da, wo …« Sie verstummte.
»Wo meine Narben sind? Weiß ich. Sie sind lange verheilt, Mrs. White. Ein Kratzer macht da keine Probleme.« Ich
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