Lenobias Versprechen: Eine House of Night Story (German Edition)
sprechen. Sie hatte niemals vorgehabt, sich ihm anzuvertrauen, ihn zu mögen, ihm überhaupt Beachtung zu schenken. Aber sie tat es. Wie auch nicht? Martin war lustig und klug und wunderschön – ach, so wunderschön.
»Ihr seid mager und werdet immer weniger«, sagte er am fünften Tag zu ihr.
Lenobia, die dabei war, die zerzauste Mähne eines der Wallache zu entwirren, hielt inne und spähte unter dem gebogenen Hals hindurch zu Martin hinüber. »Was soll das heißen? Ich bin zierlich. Nicht mager.«
»Doch, mager, ma belle .« Er schlüpfte unter dem Hals des Wallachs hindurch und stand unversehens vor ihr, ganz nah und warm und stark. Behutsam nahm er ihr Handgelenk und umschloss es mühelos mit Zeigefinger und Daumen. »Seht Ihr? Nur Haut und Knochen.«
Seine Berührung ging ihr durch und durch. Er war groß und kräftig und doch sanft. Seine Bewegungen waren langsam, ruhig, fast hypnotisch. Als wollte er sie ganz bewusst nicht erschrecken. In dieser Sanftheit war er, wie ihr plötzlich bewusst wurde, den Pferden nicht unähnlich. Mit dem Daumen strich er ihr über die Innenseite des Handgelenks, dort, wo der Puls zu fühlen war.
»Ich muss so tun, als wollte ich nichts essen«, hörte sie sich gestehen.
»Warum, ma belle ?«
»Es ist besser, wenn ich mich von allen fernhalte. Wenn ich so tue, als wäre ich krank, ist das ein guter Grund.«
»Von allen? Warum nicht von mir?«, fragte er keck.
Sie zog ihr Handgelenk aus seinem sanften Griff und sah ihn streng an, auch wenn ihr war, als müsste ihr das Herz aus der Brust springen. »Ich komme wegen der Pferde, nicht deinetwegen.«
»Ah, les chevaux . Natürlich.« Er strich dem Wallach über den Hals, doch er lächelte nicht, wie sie erwartet hatte. Er gab auch nichts Neckendes zurück. Er sah sie einfach an, als könnte er durch ihre kühle Fassade hindurch bis in ihr weiches, verletzliches Herz blicken. Ohne noch etwas zu sagen, reichte er ihr eine der dicken Bürsten, die in einem Korb neben dem Verschlag standen. »Die mag er am liebsten.«
»Danke.« Und sie begann den breiten Rücken des Wallachs mit der Bürste zu bearbeiten.
Die unbehagliche Stille dauerte nur kurz, dann fragte Martin von der anderen Seite des Wallachs, um den er sich kümmerte: »Was soll ich Euch heute erzählen, ma belle ? Von dem guten Boden in Nouvelle-France, in dem alles, was du pflanzt, viel größer wächst als diese beiden petits chevaux hier, oder von den Perlen in den tignons der schönen placées , die über den Markt schlendern?«
»Erzähl mir von den Frauen – von den placées «, bat Lenobia und lauschte hingerissen Martins Erzählungen von atemberaubend schönen Frauen, die frei waren, selbst zu entscheiden, wen sie liebten, wenn auch nicht frei genug, um diese Verbindungen zu legalisieren.
Als sie am nächsten Morgen in den Laderaum geeilt kam, war er schon dabei, die Pferde zu striegeln. Auf ein Haferfass war ein sauberes Tuch gebreitet; darauf lagen ein Stück Käse und eine Scheibe duftenden heißen Schweinebratens zwischen zwei dicken Scheiben frischen Brotes. Ohne sie anzusehen, sagte Martin: »Esst, ma belle . Bei mir müsst Ihr nicht so tun als ob.«
Vielleicht war es dieser Tag, an dem sich die Dinge für Lenobia änderten und sie ihre morgendlichen Ausflüge nicht mehr der Pferde, sondern Martins wegen zu unternehmen begann. Oder zumindest war es der Tag, an dem sie es sich eingestand.
Und nachdem sich die Dinge für sie geändert hatten, begann sie nach Anzeichen zu suchen, dass sie für Martin mehr war als eine Bekannte – mehr als ma belle , das Mädchen, dem er Essen brachte und das ihn mit Fragen über Neu-Frankreich löcherte. Doch alles, was sie in seinem Blick fand, war die Freundlichkeit, die ihr längst vertraut war. Alles, was in seinem Ton mitschwang, waren Geduld und Humor. Ein- oder zweimal glaubte sie einen Anflug von etwas zu spüren, was darüber hinausging, besonders wenn sie zusammen lachten und sich goldbraune Funken in das Olivgrün seiner Augen zu mischen schienen, doch er wandte sich immer ab, wenn sie ihn zu lange anblickte, und hatte immer eine lustige Geschichte parat, wenn das Schweigen zwischen ihnen zu lang wurde.
Kurz bevor ihre kleine Oase aus Frieden und Glück zerstört wurde und ihre Welt zerbrach, fand Lenobia endlich den Mut, ihm die Frage zu stellen, die ihr keine Ruhe ließ. Als sie sich die Röcke abgeklopft und dem Wallach, der ihr am nächsten stand, zärtlich »À bientôt« ins Ohr gehaucht hatte,
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