Lenobias Versprechen: Eine House of Night Story (German Edition)
Eilig passierte sie die Tür zu den Mannschaftsräumen. Sie war später als gewöhnlich dran, und drinnen waren kaum noch Geräusche von Matrosen zu hören, die sich für den Tag fertigmachten. Das hätte sie zur Vorsicht gemahnen müssen. Sie hätte innehalten und lauschen sollen, aber alles, was Lenobia in diesem Augenblick hören konnte, waren ihre Gedanken, die ihre eigene Frage beantworteten: Was bedeutet es, dass Martin sagte, sein Herz habe mich gehört? Es bedeutet, dass er weiß, dass ich ihn liebe.
Ich liebe ihn. Ich liebe Martin.
Genau in dem Moment, als sie sich das eingestand, trat kaum zwei Schritte hinter ihr in wallenden violetten Roben der Bischof auf den Gang.
»Bonjour, Mademoiselle.«
Wäre Lenobia nicht so in Gedanken gewesen, sie hätte rasch den Kopf gesenkt, geknickst und sich schleunigst in ihre sichere Kabine zurückgezogen. Stattdessen machte sie einen verhängnisvollen Fehler. Sie sah auf.
Ihre Blicke begegneten sich.
»Ah, das ist die kleine Demoiselle , die die ganze Reise so krank war.« Er hielt inne, und sie sah, wie in seinen dunklen Augen Verwirrung aufkam. Er reckte sogar den Kopf vor und runzelte die Stirn. »Aber ich dachte, Ihr wärt die Tochter des …« Er brach ab. Seine Augen weiteten sich. Er hatte sie erkannt … und alles begriffen.
» Bonjour , Euer Exzellenz«, sagte sie hastig, zog den Kopf ein, knickste und wollte sich zurückziehen. Doch es war zu spät. Der Bischof streckte blitzschnell die Hand aus und packte sie am Arm.
»Ich erkenne dein hübsches Gesichtchen. Es ist nicht das von Cécile Marsan de la Tour d’Auvergne, Tochter des Herzogs von Bouillon.«
»Nein, bitte, lasst mich gehen, Euer Exzellenz.« Sie versuchte sich loszureißen, aber sein heißer Griff schien fester als Eisen.
»Ich kenne dein wirklich ausnehmend hübsches Gesichtchen«, wiederholte er. Aus seiner Verblüffung war ein grausames Lächeln geworden. »Du bist eine Tochter des Herzogs – seine fille de bas . Jeder im Umkreis des Château de Navarre kennt die saftige kleine Frucht, die auf der falschen Seite vom Baum des Herzogs gefallen ist.«
Bastardtochter … saftige kleine Frucht … falsche Seite … Die auf sie einprasselnden Worte weckten namenlose Furcht in ihr. Sie schüttelte mechanisch den Kopf. »Nein, ich muss zurück in meine Kabine. Schwester Marie Madeleine wird mich schon vermissen.«
»Das tue ich in der Tat.«
Beim Klang der strengen Stimme zuckten sowohl der Bischof wie auch Lenobia zusammen – er so sehr, dass sie sich aus seinem Griff losreißen und der Nonne entgegenstolpern konnte.
»Was geht hier vor, Euer Exzellenz?«, fragte Schwester Marie Madeleine. Doch ehe der Bischof antworten konnte, strich sie Lenobia über die Wange. »Cécile, warum zittert Ihr so? Ist Euch wieder übel?«
»Cécile nennt Ihr sie? Seid Ihr etwa in diese schändliche Täuschung eingeweiht?« Unheilvoll ragte der Bischof über ihnen auf. Er schien die ganze Breite des Gangs auszufüllen.
Schwester Marie Madeleine ließ sich nicht einschüchtern. Sie stellte sich zwischen Lenobia und den Priester. »Ich begreife nicht, wovon Ihr sprecht, Euer Exzellenz, aber Ihr ängstigt dieses Kind.«
»Dieses Kind ist ein Bastard und eine Hochstaplerin!«, donnerte der Bischof.
Die Nonne schrak zurück, als hätte er sie geschlagen. »Euer Exzellenz! Seid Ihr von Sinnen?«
»Wusstet Ihr es? Habt Ihr sie deshalb die ganze Reise lang versteckt gehalten?«, tobte der Bischof weiter. Lenobia hörte, wie hinter ihr Türen geöffnet wurden, und wusste, dass die anderen Mädchen aus ihren Kabinen spähten. Sie sah nicht hin – sie konnte ihnen nicht in die Augen sehen. »Das ist eine Farce! Ich werde Euch beide exkommunizieren. Der Heilige Vater persönlich wird davon erfahren!«
Seine wütende Tirade lockte immer mehr Neugierige an. Auch einige Matrosen versammelten sich auf der anderen Seite des Gangs. Und dann erfasste ihr Blick ganz hinten Martins erstauntes Gesicht, und sie sah, wie er langsam näher kam.
Es war schon schrecklich genug, dass Schwester Marie Madeleine hier stand, sie beschützte und verteidigte. Sie könnte es unmöglich ertragen, wenn Martin auch noch in dieses Durcheinander hineingezogen würde, das sie aus ihrem Leben gemacht hatte.
»Nein!«, rief sie und schlüpfte an Schwester Marie Madeleine vorbei. »Ich war es ganz allein. Niemand wusste davon, niemand! Vor allem nicht die Ehrwürdige Schwester.«
Da erschien auch der Commodore und musterte sie und
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