Lenobias Versprechen: Eine House of Night Story (German Edition)
an Bord, da wurdet Ihr blass. Ihr seht besser aus jetzt, auch wenn die See heute rau ist.«
»Spazierengehen tut mir gut, aber Schwester Marie Madeleine hält es nicht für schicklich.« In Wirklichkeit hatte die gute Schwester nichts dergleichen gesagt. Es war nicht nötig. Die anderen Mädchen schienen völlig damit zufrieden, dazusitzen, zu plaudern und zu sticken oder auf einem der beiden kostbaren Cembali zu spielen, die sich ebenfalls auf dem Weg nach Nouvelle-Orléans befanden. Keine von ihnen hatte irgendwelches Interesse daran gezeigt, das gewaltige Schiff zu erkunden.
»Die Schwester, sie ist starke Frau. Ich glaube, sogar der Commodore hat bisschen Angst vor ihr.«
»Ich weiß, ich weiß, aber ich, also … ich wollte den Rest des Schiffs kennenlernen.« Sie hatte Mühe, Worte zu finden, die nicht zu viel verrieten.
Martin nickte. »Die anderen Demoiselles, sie bleiben immer drinnen. Manche von uns, wir glauben, sie sind filles à la cassette , Mädchen in Schatulle.« Er sagte es zuerst auf Französisch, dann auf Englisch, was sie auf sonderbare Weise an die Bemerkung ihrer Mutter an dem Morgen erinnerte, als sie das Château verlassen hatte. Er legte den Kopf schief und rieb sich in übertriebener Nachdenklichkeit das Kinn. »Ihr, Ihr seid nicht so eine Schatulle.«
» Exactement! Genau das meine ich. Ich bin nicht wie die anderen.« Die Männerstimmen kamen immer näher. Lenobia streichelte die beiden Grauen zum Abschied, schluckte ihre Angst hinunter und sah den jungen Mann offen an. »Bitte, Martin, kannst du mir einen Weg zeigen, wie ich zurückkomme, ohne dort hochzuklettern«, sie zeigte auf die Leiter, »und über das gesamte Deck laufen zu müssen?«
Er zögerte nur ganz kurz. »Oui.«
»Und versprichst du mir, niemandem zu sagen, dass ich hier war? Bitte?«
»Oui« , wiederholte er. »Allons-y.«
Flink führte er sie im Zickzack zwischen den Bergen von Ladung hindurch über die ganze Länge des Schiffs bis zu einem größeren, weniger unwegsamen Ausgang. »Da, ganz hinauf. Führt auf den Gang zu Euren Kabinen.«
»An den Mannschaftsquartieren vorbei, nicht wahr?«
»Ja. Wenn Ihr Männer seht, hebt den Kopf, so.« Er hob das Kinn. »Und seht sie an wie mich, als Ihr gesagt habt, Ihr liebt Pferde und Katzenspitzbuben. Dann lassen sie Euch in Ruhe.«
»Danke. Vielen, vielen Dank, Martin.«
»Wisst Ihr, warum ich Euch helfe?«
Erstaunt drehte sie sich noch einmal um. »Weil du ein gutes Herz hast?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Weil Ihr tapfer seid und mich gefragt habt.«
Da musste sie kichern; ein guter Teil davon war Hysterie. »Tapfer? Nein, ich habe vor allem Angst!«
Er lächelte. »Nicht vor Pferden und Katzen.«
Sie erwiderte das Lächeln und spürte, wie ihre Wangen warm wurden und ihr Magen ein bisschen hüpfte, weil er noch attraktiver war, wenn er lächelte. »Ja.« Sie versuchte zu verbergen, wie atemlos sie war. »Nicht vor Pferden und Katzen. Nochmals danke, Martin.«
Sie war beinahe durch die Tür, da fügte er hinzu: »Ich gebe ihnen Futter. Jeden Morgen kurz nach Sonnenaufgang.«
Lenobia sah zurück. »Vielleicht komme ich vorbei.«
Seine grünen Augen funkelten, und er tippte sich an einen imaginären Hut. »Vielleicht, ma belle . Vielleicht.«
Vier
Die nächsten vier Wochen verlebte Lenobia in einem seltsamen Zustand, irgendwo zwischen Zufriedenheit und Unruhe, Glück und Verzweiflung. Die Zeit trieb ihr Spiel mit ihr. Die Stunden, die sie in ihrer Kabine saß und auf den Abend, die Nacht und schließlich auf die ersten Anzeichen der Dämmerung wartete, schienen eine Ewigkeit zu dauern. Doch kaum schlief das Schiff, und sie konnte ihr selbstauferlegtes Gefängnis verlassen, da flog die Zeit vorüber und ließ sie atemlos und mit dem brennenden Wunsch nach mehr zurück.
Dann durchstreifte sie das Schiff, ließ sich von der salzigen Luft mit Freiheit tränken, beobachtete, wie die Sonne in all ihrer Pracht über die Wasser des Horizonts stieg, und stahl sich schließlich nach unten zu dem Glück, das sie unter Deck erwartete.
Eine Weile redete sie sich ein, dass es nur die beiden Grauen waren, die sie so glücklich machten – derentwegen sie so begierig in den Frachtraum eilte und so traurig darüber war, wenn die Zeit dahinschwand, das Schiff zu erwachen begann und sie in ihre Kabine zurückkehren musste.
Es konnte unmöglich etwas mit Martins breiten Schultern zu tun haben, mit seinem Lächeln, dem Funkeln seiner olivgrünen Augen oder den
Weitere Kostenlose Bücher