Lenobias Versprechen: Eine House of Night Story (German Edition)
Sie wischte Lenobias Dank mit einer Handbewegung beiseite. »Nun, da du entlarvt bist, wird man von dir erwarten, dass du am Dîner teilnimmst. Solltest du dich weigern, wirst du nur noch mehr belächelt und verachtet werden.«
»Belächelt und verachtet zu werden ist weniger anstößig als die Aufdringlichkeiten des Bischofs.«
»Nein. Es würde dich noch anfälliger dafür machen. Du wirst mit uns speisen. Lenke nur keine Aufmerksamkeit auf dich. Vor unser aller Augen kann er dir nichts tun. Abgesehen davon wirst du, so fürchte ich, außer Sicht bleiben müssen, auch wenn ich mir gut vorstellen kann, dass du es leid bist, eine Krankheit vorzutäuschen und in deiner Kabine zu bleiben.«
Lenobia räusperte sich, hob den Kopf und wagte den Sprung ins kalte Wasser. »Schwester, ich habe schon einigen Wochen jeden Morgen vor Sonnenaufgang die Kabine verlassen und bin zurückgekehrt, ehe das Schiff ganz erwachte.«
Die Nonne lächelte. »Ja, Kind. Ich weiß.«
»Oh. Ich dachte, Ihr hättet gebetet.«
»Lenobia, du wirst feststellen müssen, dass ich wie viele meiner guten Schwestern in der Lage bin, gleichzeitig zu beten und zu denken. Doch ich schätze deine Ehrlichkeit. Wo verbringst du diese Zeit?«
»Hier oben. Also, eigentlich hier.« Sie wies auf einen schattigen Winkel des Decks, wo die Rettungsboote lagerten. »Ich beobachte den Sonnenaufgang und vertrete mir ein wenig die Beine. Und dann gehe ich in den Frachtraum.«
Marie Madeleine staunte. »In den Frachtraum? Wozu das?«
»Wegen der Pferde.« Ich sage die Wahrheit , redete sie sich ein. Die Pferde waren der eigentliche Grund dafür. »Zwei graue Percheronwallache für eine Kutsche. Ich mag Pferde sehr gern und kann gut mit ihnen umgehen. Darf ich sie weiterhin besuchen?«
»Hast du auf deinen Ausflügen jemals den Bischof getroffen?«
»Nein. Heute zum ersten Mal, und nur, weil ich zu lange unten geblieben bin.«
Die Nonne hob die Schultern. »Solange du vorsichtig bist, sehe ich keinen Grund, warum ich dich vierundzwanzig Stunden am Tag in der Kabine festhalten sollte. Doch pass auf dich auf, Kind.«
»Das werde ich. Merci beaucoup , Schwester.« Lenobia schlang die Arme um die Nonne, und die Nonne tätschelte ihr die Schulter. »Sorge dich nicht«, murmelte sie. »In Nouvelle-Orléans sind anständige katholische Mädchen rar gesät. Wir werden einen Mann für dich finden, hab nur keine Angst.«
Lenobia versuchte, nicht an Martin zu denken. »Mir wäre lieber, ich könnte einen Weg finden, ohne Mann ein Auskommen zu haben.«
Noch als sie sich zurück in die Kabine begaben, schmunzelte die Nonne leise in sich hinein.
In der privaten Kajüte des Commodore, genau unter dem Deck, wo Lenobia und Schwester Marie Madeleine sich vor so kurzer Zeit noch unterhalten hatten, stand Bischof Charles de Beaumont am offenen Fenster, reglos wie eine Statue, schweigend wie der Tod. Als der Commodore mit zwei staubigen Flaschen Portwein unter dem Arm aus der Kombüse zurückkehrte, bekundete er diesbezüglich Interesse an Jahrgang und Herkunft und tat, als genösse er den vollmundigen Tropfen ausgiebig. Doch in Wahrheit trank er in tiefen Zügen und ohne viel zu schmecken. Er brauchte den Wein, um die Flamme des Zorns zu löschen, die hell in ihm loderte, während in seinem Geist Fetzen der Konversation brodelten, die er soeben belauscht hatte: Was habt ihr beiden für Differenzen? Hat der Bischof dir etwas angetan? Belächelt und verachtet zu werden ist weniger anstößig als die Aufdringlichkeiten des Bischofs. Pass auf dich auf, Kind …
Der Commodore erging sich in Ausführungen über Gezeiten, Schlachttaktiken und andere banale Dinge. Durch den Wein gedämpft, siedete Charles’ Zorn langsam und im Verborgenen vor sich hin, garte in den Säften von Hass, Begierde und Feuer – immer das Feuer.
Wäre Schwester Marie Madeleine nicht gewesen, das Dîner wäre zur Katastrophe verkommen. Simonette war die Einzige der Mädchen, die mit Lenobia sprach, und auch das unsicher, stockend – als vergäße die Fünfzehnjährige von Zeit zu Zeit, dass sie Lenobia eigentlich verabscheuen sollte.
Lenobia konzentrierte sich auf das Essen. Sie hatte gedacht, es würde der Himmel auf Erden sein, wieder einmal eine volle Mahlzeit zu essen, aber von dem schwelenden Blick des Bischofs war ihr so übel, dass es damit endete, dass sie den größten Teil der schmackhaften Seebrasse und der Butterkartoffeln auf ihrem Teller herumschob.
Doch Schwester Marie Madeleine
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