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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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folgte mir in den Quartieren – es raschelte und knackte um mich herum –, erwartete mich im Nebel am Fluß, lauschte vor meiner Tür, und immer gelang es ihm, unerkannt zu bleiben.
    Wenn sie jetzt einen bestimmen, der mir nachspüren soll, dann werde ich es nicht für mich behalten, ich werde es dem Chef erzählen, und der wird schon wissen, was getan werden muß, er, der mich einmal seinen einzigen Freund genannt hat. Zur Not kann ich mich auch hier einschließen, auf die beiden Sicherheitsschlösser und auf den Riegel ist Verlaß, die bricht so leicht keiner auf, und alles, was auf mich zukommt, muß draußen bleiben und warten. Gewalt werden sie wohl nicht brauchen, aber wenn sie es tun, dann könnte ich sie ganz schön überraschen, ein einziger Schnitt mit meiner Schwunghippe reicht aus, einfach den Hals zurückbiegen und einen kräftigen Querschnitt von links nach rechts.
    Kartoffelsalat und Frikadellen; wie locker die Frikadellen sind, wie bröselig, die hat gewiß Lisbeth gemacht mit viel zu viel Reibemehl, im Wartesaal sind sie härter, älter und härter. Wenn der Chef nicht das Sagen hätte, dann müßte Lisbeth wohl schon morgen fort von Hollenhusen, sie und ich wären die ersten, die wegmüßten, aber noch bestimmt er, wer hier im Gerätehaus wohnen bleiben darf, und sein Wille reicht aus, daß sie ihr Zimmer behält drüben in der Festung. Es stehen schon viele Zimmer leer drüben, ich weiß gar nicht, wie viele es mittlerweile sind, bereits beim Einzug damals zeigte es sich, daß einige Zimmer übrig waren, aber das geht mich nichts an; für mich war kein Bleiben in der Festung, ich werde niemals in den Keller zurückkehren.
    Ach, Ina, ich höre noch, wie du dir am Abend vor dem Umzug, als wir auf dem Kollerhof zwischen den Bündeln und Kisten herumsaßen, versichern ließest, daß du dein Zimmer allein, ganz allein einrichten dürftest, nur die fremden Männer, die uns halfen, gingen zu dir hinein, und die Blicke, die sie auf dem Flur tauschten, sagten mir schon, daß sie etwas gesehen hatten, woran sie nicht gewöhnt waren.
    Ich war der erste, dem du alles gezeigt hast, vielleicht wolltest du an mir den Eindruck erproben, den dein Zimmer auf andere machte, machen sollte. Komm mal, Bruno, nur einen Augenblick, und dann nahmst du mich mit zu dir. Im Freien, ich stand nicht im Zimmer, sondern im Freien, denn die Wände waren mit großen bunten Plakaten bedeckt, die du vor uns allen verborgen hattest: Wiesen umgaben mich, auf denen Pferde ihre Hälse aneinander rieben, hier strichen Wildenten über eine Schilflandschaft, dort standen, fein ausgerichtet, Bienenkörbe unter blühenden Obstbäumen, sogar auf eine Waldlichtung konnte man blicken, auf der sich eine verschwitzte Gesellschaft zum Essen und Ausruhen gelagert hatte. Von den Wänden war fast nichts mehr zu sehen.
    Das Schönste aber, das waren deine Zeichnungen, Ina, die du nebeneinander aufgehängt hattest, alle waren gleich groß, und sie zeigten uns: Dorothea und den Chef, und Max und Joachim und mich und dich. Das Gesicht des Chefs mußte man in der Krone eines Walnußbaums suchen, und Dorothea, die war ganz mit Brombeergestrüpp behängt, Max und Joachim hatten zusammengekniffene Augen, als ob die Sonne sie blendete, und du selbst gucktest aus einem Spiegel heraus. Mein Gesicht erkannte ich sofort – du hattest es auf einen Papierdrachen gemalt –, und aus Begeisterung bat ich dich gleich, mir die Zeichnung zu schenken, aber du sagtest nein. Und du sagtest auch: Bei mir sollt ihr alle zusammenbleiben. Da hab ich mich sehr gefreut und dich um Erlaubnis gebeten, ab und zu bei dir sitzen zu dürfen, und du hast zugestimmt und gesagt: Du weißt doch, Bruno, meine Tür ist immer offen, das wird sich auch hier nicht ändern, in der Festung. Und dann wolltest du mit mir kommen in die Kellerwohnung, die der Chef für mich vorgesehen hatte, du wolltest mir beim Einrichten helfen, und du warst ziemlich erstaunt, als ich dir sagte, daß es nichts zu helfen gab, weil ich längst fertig war mit allem.
    Von meinem Fenster aus konnte ich das helle, ebenerdige Büro des Chefs nicht sehen, doch ich konnte alle sehen, die zu ihm wollten, meistens waren es Männer in Joppen oder in grünen Mänteln, seltener Paare, sie kamen in Autos angefahren, in Lieferwagen, und ihr erster Blick galt nicht dem Büro, sondern unseren Quartieren, die sich bis zum Horizont erstreckten. Wie sie standen. Wie sie die Augen beschatteten. Wie sie sich anstießen und mit

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