Lenz, Siegfried
Geräusche des Wachstums, die der Chef schon hundertmal gehört hatte und die ich endlich an einem Morgen auch hörte, ein ganz schwaches Knistern. Oft hatte er zu mir gesagt: Komisch, Bruno, du hörst doch sonst so gut, aber die Geräusche des Wachstums, die bekommst du wohl nicht mit – und nun hatte ich sie zum ersten Mal gehört und freute mich darüber.
Magda war nicht im »Deutschen Haus«, und ich wäre wohl auch nicht da gewesen, wenn Max mich nicht mitgenommen hätte, Max, der uns nur zu den Festen und besonderen Anlässen besuchte; auf dem Rückweg von der Gerichtslinde, wo er mich bald totgefragt hätte, sagte er plötzlich: Heute abend, Bruno, da mußt du dabei sein, da wirst du den Chef in einer neuen Rolle erleben, ich jedenfalls gehe hin. Max bot sich auch gleich an, mich mitzunehmen, und ich wartete auf ihn am Bahnübergang und ging dann neben ihm ins »Deutsche Haus«, wo ganz Hollenhusen sich versammelt hatte und dazu viele aus den Nachbarorten, mehr Männer als Frauen. Das Geschiebe. Die Begrüßungen. Der Zigarrenrauch. Das viele grüne Tuch, das hineindrängte in den matt erleuchteten großen Saal. An Längstischen nahmen sie Platz, möglichst weit hinten. Wir gingen gleich nach vorn, wo noch zahlreiche Stühle unbesetzt waren, bei der Aushilfskellnerin bestellte Max für sich ein Bier, für mich eine Limonade, außerdem bestellte er schon mal ein Kännchen Tee für Dorothea, die noch kommen wollte. Zählen konnte ich all die Leute nicht, weil einige immer hin- und hergingen zwischen den Tischen, hinter vorgehaltener Hand flüsterten, eben mal raus mußten, in Begleitung wiederkehrten, sich an anderen Tischen aufstützten, wo sie selbst etwas geflüstert bekamen – jeder Versuch, sie zu zählen, mißlang.
Kaum hatte Dorothea sich zwischen uns gesetzt, kaum hatte ihr Atem sich beruhigt, da wurde der Chef von zwei Männern in den Saal geführt, es wurde so still, daß ihre Schritte auf dem Holzfußboden zu hören waren, kein Gewinke, kein großes Wiedererkennen, auch als sie dicht vor unserm Tisch vorbeizogen, tauschten wir kein Signal. Geklatscht hat niemand. Die Männer geleiteten den Chef zu einem Pult, das von zwei Kübelgewächsen flankiert war, er wurde gebeten, sich zu setzen, und einer der Männer stieg aufs Pult und begrüßte launig die Anwesenden, es war der Höker Tordsen, der jeden im Saal kannte und sich freute, daß kaum einer fehlte. Er hielt es für überflüssig, Konrad Zeller vorzustellen, er wollte nur daran erinnern, daß dieser Mann – er sagte meistens: dieser Mann – gleich nach dem Krieg mit dem großen Strom aus dem Osten gekommen war, einer, der seine Pflicht erfüllt und alles verloren hatte, aber deswegen noch lange nicht bereit war, aufzugeben und beiseitezustehen, sondern, was viele bezeugen können, als Fremder, als Mittelloser, mit Ausdauer und Erfahrung etwas aufbaute, das überall Anerkennung gefunden hat, nicht nur in Hollenhusen. Diesem Mann, sagte Tordsen, schulden wir Dank, und er sagte auch: Dieser Mann hat unser Vertrauen, er und seine Partei.
Nach ihm stieg der Chef aufs Podium, und jetzt klatschten einige, nicht heftig, nicht anhaltend, aber sie klatschten – als ich mitklatschen wollte, da verwies mich Dorothea durch einen Blick, und Max zog meine Hände unter den Tisch. Der Chef war sehr ernst, er sprach langsam, sein Blick wanderte über uns hinweg bis in die halbdunklen Ecken des Saals, von all dem, was er zu sagen hatte, verstand ich nicht viel, doch ich bekam mit, daß es um Europa ging, um seinen Zusammenschluß auf verschiedenen Feldern, er sprach von Opfern und Veränderungen und kündigte an, daß die auch in Hollenhusen gebracht und verkraftet werden mußten, besonders auf dem Land, besonders auf kleinen und allerkleinsten Höfen, jedenfalls täten manche gut daran, sich auf Opfer und Veränderungen einzustellen. Max wiegte den Kopf, während Dorothea die Gesichter um uns herum prüfend musterte, all die harten, skeptischen Gesichter, die das meiste für sich behalten können. Ohne Regung hörten sie zu, wie der Chef zuerst von den guten Nord-Süd-, dann aber von den schlechten Ost-West-Verbindungen bei uns sprach, er schlug vor, eine Umgehungsstraße zu bauen mit Anschlüssen an die Straße nach Schleswig, und als er über die Flurbereinigung sprach, schlug er vor, auf dem Gemeindeland eine neue Schule zu bauen, die sollte alle benötigten Klassen haben und eine Turnhalle. Der Chef las nichts ab, er hatte alles im Kopf, mitunter schloß
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