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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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er die Augen, um sich zu entsinnen, und wenn er das Gesicht zur Seite wandte, konnte ich sehen, daß ihm der Schweiß nur so herunterlief. Die Kante des Pults hielt er bestimmt nicht vor Aufregung umklammert, er war so ruhig wie einer, der seinen Worten immer vertraut hat, und ruhig und selbstgewiß und oft bereit, einen Satz zu wiederholen, sprach er von Drainagearbeiten und der Vereinigung der beiden altmodischen Molkereien, und zum Schluß dankte er allen für die Aufmerksamkeit.
    Die Aussprache, ich weiß noch, daß nach magerem Beifall Getränke hereingebracht wurden zur großen Aussprache, einer – und er rief es laut – wollte, daß der Saal aufgehellt wird, aber es blieb bei mattem Licht, es blieb auch bei der gewohnten Sitzordnung und bei der gleichen Anzahl Zuhörer, nur bei der üblichen Hollenhusener Stille und Unerregtheit blieb es nicht. Solange der Chef gesprochen hatte, war nichts von ihnen gekommen, kein Gegenwort, kein Zuruf und keine Nachfrage, so daß einer, der uns hier nicht kennt, gut und gern hätte glauben können, der Redner habe alle überzeugt, aber in der Aussprache, da zeigte es sich, daß sie in Hollenhusen nicht schweigen aus Zufriedenheit.
    Zuerst wollten sie wissen, womit der Chef das bezahlen wollte, was er vorgeschlagen hatte, sie ließen sich nicht abspeisen mit ungefähren Angaben und in Aussicht gestellten Zuflüssen aus Landesmitteln, sie bestanden auf genaue Zahlen für Schule, Turnhalle und alles andere, und der Chef sagte, was er wußte, aber er gab auch zu, daß er einiges nicht wußte. Der Chef erregte sich nicht, auch als einer aus seiner dunklen Ecke nach den Zweihundertachtundvierzigern fragte, erregte er sich nicht, beherrscht erklärte er, daß die Rückkehr der Soldaten zwar einige Vorteile brächte, das schon, aber andererseits würde sich zuviel ändern an unserem Leben hier. Mehr sagte er nicht; der in seiner Ecke und einige andere hätten wohl gern weitergefragt, aber sie unterdrückten, was sie loswerden wollten an Anspielung und Verdacht, und der Chef wollte von sich aus nichts hinzufügen, er, der immer gewußt hat, welche Antwort einer bekommen soll.
    Erstaunt geguckt hat er aber doch, als sich vom letzten Fenster einer nach vorn aufmachte, ein schmächtiger Alter, der ohne Eile an den Tischen vorbeistakste, zäh, mit erhobenem Gesicht, einmal verwirrt stehenblieb, als hätte er sich verlaufen, dann aber seinen Weg zielbewußt fortsetzte zum Pult, wo er sich ziemlich viel Zeit ließ mit seinem Begehren und nur den Chef anstarrte, auf unerbittliche Art. Er verlangte zusätzliche Auskunft über Europa und das Opfer, das er persönlich bringen sollte, er hatte verstanden, daß kleine Höfe ohne Zukunft waren, und er stammte von einem kleinen Hof, nicht mal fünfundzwanzig Hektar, von diesem bißchen Land aber hatten seine Leute über zweihundertfünfzig Jahre gelebt, und was denn nun werden sollte mit ihm und seinesgleichen – das wollte er mal vom Chef wissen. Da sprangen einige im Saal auf, der alte Mann hatte für sie gesprochen und bekam seinen Beifall, ich erschrak, als ihre Fäuste die Tische betrommelten, und Dorothea schaute sich besorgt um und suchte den Blick von Max. Die Stimme des Chefs änderte sich kaum, sie klang nur ein wenig trauriger, als er dem alten Mann versicherte, daß er alles verstehen könne, die Bitterkeit, den Zorn und die Verzweiflung, er sagte: Ich weiß, was es heißt, alles zu verlieren, und er sagte auch: Wir sind immer unterwegs, nirgendwo steht geschrieben, daß alles so bleiben muß, wie es ist. Diese Worte genügten weder dem alten Mann noch denen, für die er ohne Auftrag gesprochen hatte, sie verlangten Gewißheiten, sie mußten erfahren, worauf sie sich einzustellen hatten, und der Chef war sogleich bereit, sich mit ihnen zusammenzusetzen, später, im kleineren Kreis.
    Als wir gemeinsam zur Festung zurückgingen, da war jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, ich und Dorothea und Max, wir trotteten hintereinander den Schotterweg entlang, ohne den Chef, der noch geblieben war, um den Aufgebrachten und Wißbegierigen den Rest zu erklären. Nachdem wir durch unsere Thujahecke geschlüpft waren, gingen wir nebeneinander, und Dorothea, die sich hin und wieder zusammenzog wie unter Kälteschauern, hakte sich bei uns ein und schüttelte den Kopf und murmelte: Warum macht er das nur, warum läßt einer sich nur darauf ein; und Max sagte leise: Nichts ist mühseliger, als andere zu überzeugen, nichts bringt so wenig ein. Aber

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