Lenz, Siegfried
ausrutschte oder von dem Mann im Kahn einen Stoß erhielt, war gar nicht so schnell zu erkennen, jedenfalls stürzte der Uniformierte ins Wasser, und der Sträfling, der die Persenning plötzlich abgeworfen hatte, kappte mit einem einzigen Schnitt das Tau, da trieb er ab und davon, die paar Schüsse, die man ihm verspätet hinterherschickte, warfen nur harmlose Fontänen auf.
Das Wasser stieg und stieg, das ganze Land war überschwemmt, eine graue Einöde, aus der Baumwipfel hervorragten und ein paar düstere Gehöfte, und durch diese Einöde trieb der plumpe Kahn, der Mann stakte und ruderte abwechselnd, mitunter blieb er in kreiselndem Geäst hängen, doch er kam immer wieder frei. Einmal stieß er sich von einer ersoffenen Kuh ab, einmal saß er wohl auf einem Drahtzaun fest und sprang selbst ins Wasser, um das Boot über das Hindernis zu bringen. Es machte ihm Freude, daß er allem entkommen war, aber es machte ihm noch größere Freude, wenn er an verlassenen Gehöften anlegte, die halb unter Wasser standen, seinen Kahn an einem Fensterkreuz oder einer Bodenluke vertäute und sich ins Innere der Behausungen schwang, wo es allerhand zu sortieren und mitzunehmen gab, Bestecke und Werkzeug und Schuhe. In dem dunklen Anzug, den er sich aus einem Bodenschrank genommen hatte, sah er nicht anders aus, als ob er zu einer Hochzeitsfeier wollte.
Als ihm aus einer Bodenluke gewinkt wurde, da hörte er zu rudern auf, er zögerte, er wußte nicht, was er tun sollte, aber nach einer Weile entschied er sich doch und mühte sich zu einem alten Holzhaus hin, auf dessen vermoostem Dach eine Zwergkiefer wuchs. Im offenen Luk stand ein Junge, er stand bis zu den Knöcheln im Wasser; geschickt fing er die Leine auf, die der Mann ihm zuwarf, schlang sie um einen roh behauenen Balken und zog den Kahn so nah heran, daß der Mann aussteigen konnte. Ihre Schritte im Dunkeln. Die Geräusche. Der aufzuckende Schein einer Taschenlampe, der knapp über Gestapeltes schwenkte und auf dem Gesicht des Jungen hängenblieb.
Wie ich plötzlich erschrak, denn es war nicht der fremde Junge, der dort auf dem Dachboden stand, sondern ich selbst: ich spürte die kalte Zugluft, fühlte das Wasser an meinen Füßen, und es war nicht allein meine Hand, die sich abwehrend gegen den blendenden Schein hob, es war auch meine Stimme, die den Mann bat, zur Treppe hinzuleuchten. Dort schwamm ein Körper, schwamm mit dem Gesicht nach unten, sanft gewiegt von immer noch steigendem Wasser: mein Großvater. Ich sagte zu dem Mann: das ist mein Großvater, und er bückte sich und drehte den Körper um, zog schnell die Uhr aus der Westentasche heraus und zerrte den Toten zum Luk und schob ihn hinaus auf die graue Einöde. Dann wollte er wissen, wo unsere Wertsachen waren, die wir gerettet haben wollten, und als ich nur die Achseln zuckte, sagte der Mann: Na, los, komm schon raus mit der Sprache, sonst holt sich alles der Strom, diesmal zeigt er es uns, das kannst du mir glauben.
Ich führte ihn zu den gestapelten Sachen, aber es waren nicht Decken, Möbel, Geschirr und Teppiche, die er meinte, sondern Münzen und Bestecke und Schmuck, so zeigte ich ihm also die Truhe und half ihm, sie aufzubrechen, und er prüfte alles im Licht der Taschenlampe und sonderte aus, was er für wertvoll hielt, und trug es selbst in den Kahn. Er wollte alles an einen sicheren Ort bringen, mich wollte er später holen. Das sagte er. Und ging zum Luk. Und griff das Tau, um den Knoten zu lösen.
Ich sah mir zu, wie ich hinter dem Mann herging, ebenfalls das Tau packte und dann ruhig darum bat, gleich mitgenommen zu werden, worauf er nickte und mich anblinzelte und plötzlich so kraftvoll zuschlug, daß ich zusammensackte. Er stieg in den Kahn, schon wollte er sich abstoßen mit der Stange, als ich hochkam, ich schüttelte mich, maß den Abstand, den er gerade gewonnen hatte, nahm Schwung und sprang durch das Luk hinaus, sprang und erwischte das Dollbord und hielt mich mit beiden Händen an ihm fest, bis zur Brust im Wasser. Der Kahn schwankte, wenn der Mann nicht die Stange gehabt hätte, mit deren Hilfe er die heftigen Schwankungen ausglich, wäre er bestimmt gekentert. Dann kniete er sich hin. Dann schlug er auf meine Finger. Dann drückte er meinen Kopf unter Wasser. Ich prustete, klammerte und paddelte, ich wollte nicht loslassen, nicht versacken, eine Stimme, die weder seine noch meine Stimme war, rief mich verzweifelt an, jemand bog meine Finger auseinander, biß auch in sie hinein,
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