Lenz, Siegfried
kippen und preßte mich an den Boden und machte mich klein.
Es gab gewiß nur wenige, die ihn bei uns vermißten. Ewaldsen und ich, wir haben oft ganze Tage nicht von Joachim gesprochen, auch Magda fragte nur selten nach ihm, er war weg und ging uns nichts an, selbst als einer von uns ein Bild in einer Schleswiger Zeitung fand – es zeigte Joachim mit Frau Sasse und einigen anderen Dressurreitern –, da schauten wir es nur an, von Rückkehr sprachen wir nicht, das nicht. Ob der Chef ihn entbehrte und sein Fortbleiben bedauerte, habe ich nicht herausbekommen, was er verschweigen wollte, das verschwieg er, da konnte man lauern und bohren, solange man wollte.
Dorothea, der war am meisten anzumerken, sie wurde um so stiller, je länger Joachims Abwesenheit dauerte, manchmal saß sie ganz versunken da, kein vergnügtes Wort kam von ihr, keine Nachfrage, kein Zuspruch wie sonst, ihr helles Gesicht wurde knochig. Sie konnte aufstehen, ohne ihren Teller angerührt zu haben, und draußen, da konnte sie auf einem Weg plötzlich stehenbleiben und hastig in die entgegengesetzte Richtung gehen, ein paarmal tat sie es wohl deshalb, um dem Chef auszuweichen. Begegneten wir uns, dann hatte sie lediglich ein bekümmertes Lächeln für mich übrig, Arbeiten, die sie dringend getan haben wollte, fielen ihr nicht ein, nach jeder Begegnung war ich traurig, und es kam ganz von selbst, daß ich mir die Tage auf dem Kollerhof zurückwünschte. Es wunderte mich nicht, daß sie eines Tages krank wurde.
Magda hatte von dieser Krankheit auch noch nie etwas gehört, es war einfach so, daß Dorothea alles, was sie aß, erbrechen mußte, sogar eine Hühnersuppe und gedämpftes Fischfilet; kaum hatte sie etwas zu sich genommen, da würgte es sie schon, da kam es ihr hoch, und sie mußte es ganz schnell von sich geben. Oft gelang es ihr nicht, zur Toilette zu kommen oder zum nächsten Ausguß, und weil es jedesmal ein Wettrennen war, sorgte sie dafür, daß an einigen Stellen gebrauchte Handtücher lagen und kleine Eimer mit ein wenig Wasser standen; dennoch passierte es, daß sie das Wettrennen verlor und sich in die Hände erbrach oder auf den Boden. Sie bestand darauf, alles selbst zu säubern und zu entfernen, keiner durfte ihr dabei helfen. Allmählich fiel es ihr immer schwerer, sich auf den Beinen zu halten. Doktor Ottlinger kam jetzt häufiger, er saß lange an Dorotheas Bett, ohne viel zu sagen, einmal glaubte Magda schon, er sei auf dem Stuhl eingeschlafen. Auch der Chef saß oft an Dorotheas Bett, auch er hatte nicht viel zu sagen.
Ach, Ina, wenn du nicht gewesen wärst, du mit deiner Ungeduld, mit deiner Entschiedenheit, du hast noch immer gewußt, wie weit etwas gehen darf und wie weit nicht, und als die Grenze erreicht war für dich, bist du mit deinem dicken Bauch zuerst zu Joachims Wohnung gefahren, und weil er nicht dort war, gleich weiter zum Gut Bodden, auf den Übungsplatz. Ich kann mir vorstellen, wie du ausstiegst aus dem Geländewagen des Chefs, schnaufend unter dem Gewicht des Kindes, Joachim einfach vom Pferd herunterholtest, keine Frage mehr zuließest, sondern ihm auf eine Art befahlst, mitzukommen, daß er sich kaum Zeit nahm zu langwierigem Abschied und sich neben dich hockte und nicht einmal auf den Gedanken kam, dir das Steuer abzunehmen. Du hast ihn bis zur Eingangstür der Festung gefahren – das hab ich gesehen –, und als er dort einen Augenblick verharrte, hast du nicht mehr gesagt als: Los, weiter, oder es passiert etwas, in deinem eigenen, für jeden unerwarteten Ton, dem sich keiner zu widersetzen wagt. Es half ihm nicht, daß er unschlüssig wurde, mit deinem Blick zwangst du ihn weiter durch die Diele, die Treppe hinauf zu Dorotheas Zimmer, und obwohl du bereits ganz schön keuchen mußtest – denn es dauerte noch einen Monat, bis Tim kam –, suchtest du den Chef und befahlst auch ihm auf eine Art mitzukommen, daß er nicht einmal fragte, wohin du ihn schleppen wolltest.
Da standen sie sich gegenüber nach langer Zeit. Magda hat erzählt, daß überhaupt nichts zu hören war, kein Wort, kein Geräusch, und als sie einmal den Hagebuttentee brachte, stand jeder für sich an einer Seite des Bettes, sie mochten sich nicht setzen, fortgehen aber mochten sie auch nicht. Ina wartete in der Diele, ausgestreckt in einem Sessel, beide Hände auf ihrem Bauch, und je länger sie wartete, ohne etwas zu hören, desto mehr beruhigte sie sich, sie hielt es so lange aus, bis beide, der Chef und Joachim, die Treppe
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