Lenz, Siegfried
Schlaf mich überall gefunden. Nicht auf den Bauch oder auf die Brust, zuerst legt er sich auf die Augen, ich muß sie zumachen, ob ich will oder nicht, hören kann ich noch fast alles, aber zu sehen gibt es immer weniger, nein, es ist anders: das, was zu sehen ist, rückt fort und verwackelt, es verliert seine Schärfe, seine Schwere, mitunter kann ich auch auf alles von oben herabgucken, auf die Holle, aufs Dänenwäldchen. Die Spannkraft, vielleicht könnte man immer noch wach bleiben, wenn der Schlaf einem nicht die Spannkraft nähme; das hat der Chef einmal gesagt: Der Müller bleibt so lange wach, wie sein Mühlrad unregelmäßig geht.
Daß es sogar weh tun kann, wenn man mit Gewalt wach bleiben möchte, das hab ich schon ein paarmal gemerkt: ganz langsam entsteht so ein Druck hinter den Augen, ein ziehender Schmerz geht über die Haut, und im Kopf fühlt man einen Stau von Hitze – wie jetzt. Kneifen hilft eine Zeit, aber es hilft nicht immer. In jener Nacht, als Bruno mit dem Chef auf Wache war, als wir im Birnenquartier hockten, hatte ich mich wer weiß wie oft gekniffen, um wach zu bleiben, dennoch überfiel mich kurz vor dem Morgengrauen der Schlaf, und als der Schüttler über meine Mauer stieg und sich mit seinem Stolpergang zum Findling hinbewegte, mußte der Chef mich kurz anstoßen und rütteln.
Es kann sein, daß ich eingeschlafen war, weil sich in all den voraufgegangenen Nächten nichts gezeigt hatte; wir streiften und lauerten, wir standen steif wie Störche im Schatten und lagen zwischen den Mutterbeeten – ohne Erfolg; die Leute, die nachts in unseren Quartieren aufräumten und ganze Fuder wegfuhren, bekamen wir nicht zu Gesicht.
Schlag ich aber die Augen auf, dann hängt nichts mehr an mir, kein Traum, keine Dumpfheit, die Benommenheit ist weg, ich brauch keine Übergangszeit wie Magda, die zuerst immer quengelt und gar nicht angesprochen werden will – ein Stoß vom Chef genügt, ein kleiner Rüttler, und ich bin wach und bekomme alles mit.
Über dem ausgestreckten Arm des Chefs sah ich den Mann über die Mauer steigen und ohne zu sichern in Richtung Findling gehen, er quälte sich vorwärts in seinem eigentümlichen Gang, und ich dachte, daß er gewiß vorgeschickt worden war, um unsere Wachsamkeit zu erproben. Und als der Chef mir durch ein Zeichen zu verstehen gab, daß ich dem Fremden den Weg abschneiden sollte, da war ich sicher, daß wir nun endlich einen von ihnen in der Falle hatten, einen von den Unsichtbaren, die sich nahmen, was ihnen nicht gehörte, immer in den Nächten, in denen keiner von uns draußen war. Alles fuhren sie ab, von unseren Laubgehölzen, von unseren Nadel- und Obstgehölzen, sie wußten genau, was gut war zum Verkauf, und sie bedienten sich so ausgiebig, daß der Chef nach jedem ihrer nächtlichen Besuche eine neue Bestandsaufnahme gemacht haben wollte, nicht bloß überschlägig geschätzt, sondern mit dem Zähler ermittelt. Die Hollenhusener Polizei fand auch keine Spur, Duus begnügte sich damit, ein paarmal gut sichtbar durch die Quartiere zu gehen und unsere Verluste zu Protokoll zu nehmen, mehr gelang ihm nicht, die nächtlichen Wachen mußten wir gehen, ich immer mit dem Chef, Joachim und Guntram Glaser wachten für sich allein.
Den Fluchtweg, den hätte ich ihm gar nicht abzuschneiden brauchen, denn als er mich erkannte, winkte er mir zu, winkte mich von der Höhe des Findlings zu sich heran, froh darüber, zu dieser Stunde einen Menschen entdeckt zu haben. Ich wartete, bis der Chef seinen Bogen geschlagen hatte und in seinen Rücken gelangt war, dann erst ging ich auf ihn zu, auf den breiten Mann, der mich sehr freundlich grüßte und mich höflich einlud, mich neben ihn zu setzen. Ich sagte nichts, ich überließ alles dem Chef, der leise herangekommen war und den Fremden so plötzlich anrief, daß der erschrak und vom Findling herunterrutschte; er sah nun abwechselnd uns beide an und wußte nicht, wie er sein Erscheinen erklären sollte. Wenn wir da schon geahnt hätten, wer es war, der da verlegen vor uns stand, wenn wir das nur geahnt hätten! Als der Chef ihn darauf hinwies, daß er sich auf privatem Grund befand, da nickte er, er sagte: Ich weiß, meine Herren, ich weiß; und dann machte er eine unbestimmte Geste über das Land hin und schüttelte den Kopf, geradeso, als könnte er nicht begreifen, wie sehr sich hier alles verändert hatte in den letzten Jahren. Der Chef fragte ihn, ob er von Hollenhusen heraufgekommen sei, darauf sagte er:
Weitere Kostenlose Bücher