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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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daß sie sich auf die Bettkante setzte und das Album auf ihren Schoß nahm, und auf einmal sagte sie prustend: Komm, Bruno, hier gibt’s was zu sehen. Wir haben dann nebeneinander gesessen, und sie hat mir vergnügt die vielen eingeklebten Photos gezeigt, es waren alte, bräunliche Photos, manche wirkten verwaschen, an den Rändern löste sich alles in Licht auf, einige waren auch von kleinen Punkten gesprenkelt. Ich wollte es zuerst gar nicht glauben, daß das schwerköpfige Kind, das aus einer hochrädrigen überdachten Karre herausguckte und mit einer Rassel drohte, der Chef sein sollte, aber er war es, an seinen Augen erkannte ich ihn wieder. Er war es auch, der mit Wurstfingern und Faltenhals auf einem Fell lag, mühsam abgestemmt, und er war auch der kleine Hornist, der auf den Knien eines schuldbewußt dreinblickenden Mannes saß und sein Horn gerade an die Lippen setzen wollte. Dorothea zeigte mir den Chef mit einer Schultüte und als Reiter auf einem Pferd. Auf einem Photo war ein schöner Grabstein zu sehen, unter dem lag die Schwester des Chefs, die sich mit ihm zu früh aufs Eis gewagt hatte, beide waren eingebrochen, doch nur ihn haben sie retten können. Am leichtesten erkannte ich den Chef wieder, wenn er mit offenem Hemd vor dem Hintergrund der Kulturen stand, den Fuß auf eine Schubkarre gehoben, oder mit geschultertem Setzspaten; ich weiß das alles noch, und ich erinnere mich auch an zwei Bilder, auf denen der Chef und Dorothea drauf waren: einmal hielten sie sich auf einer Brücke an den Händen, deren Geländer bestimmt aus Birkenholz war, ein andermal trug der Chef eine Uniform und ging mit Dorothea durch ein Spalier von Männern, die alle wie Jäger aussahen. Als Dorothea das Album zuklappte, da sagte sie nur: Was gewesen ist, ist gewesen, aber sie sagte auch noch: Morgen wollen wir deine Photos abholen, Bruno.
    Ich hab dann für mich gesessen und wie oft an die Memel gedacht, an den dunklen Fluß, der im Frühjahr alle nur möglichen Dinge vorbeibrachte, Stühle und tote Katzen und Flaschen und Bretterzeug noch und noch, und manchmal eine aufgeblähte Kuh, die sich steifbeinig in den Strudeln drehte und, wieder von der Strömung erfaßt, sacht weitertrieb. Breite geteerte Boote glitten in meiner Erinnerung unter braunen Segeln vorbei. Eine alte Frau ging über den mit Borke bedeckten Platz unseres Sägewerks, sie schleppte zwei Körbe, einen mit frischen Hechten, einen anderen mit geräucherten Flundern, sie kam gerade bis zum Gatter, da erschien mein Vater und sah in die Körbe und schickte die Frau weg, weil er Barsche haben wollte, immer nur Barsche. Pferdegespanne zogen große Stämme aus dem Fluß und schleiften sie zum Gatter hinauf. Aus dem weißgetünchten Verwalterhaus rief die Stimme meiner Mutter, mein Nachhilfelehrer war gekommen, er saß bereits am Tisch und aß Sandkuchen und trank Kaffee. Die Dampfsirene ging, und unten am Fluß ließ ein Mann den langen Bootshaken fallen.
    Auf einmal saßen wir in der Dämmerung, Ina und Joachim waren schon mehrmals hereingekommen und wieder fortgegangen, Regenschleier hingen über dem Exerzierplatz, und Dorothea schickte nun wieder mich und Max los, um den Chef zu suchen; sie war wohl in Sorge, weil er sonst nie vergaß, zu sagen, was er vorhatte und wohin er gehen wollte. Ich nahm mir gleich vor, den Chef allein zu finden, und rannte los, ohne auf Max zu hören, lief zwischen den Baracken hindurch zur Sandstraße und dann weiter bis zur mickrigen Schonung von Kuschelfichten, da lauschte ich erst einmal. In der Dunkelheit war ich noch nie auf dem Exerzierplatz gewesen, es war still, nichts bewegte sich, dennoch rechnete ich damit, daß man mich beobachtete, aus dem Gebüsch, vom Hügel herab, aus den Häuserattrappen. Ich mußte an den Feldwebel denken, von dem sie damals erzählten, daß er auf diesem Land verschwunden war – jetzt wissen wir alles, kennen sogar die Namen der Soldaten, die den Feldwebel hier hatten verschwinden lassen –, und ich schnürte vorsichtig bis zur Senke, schlug einen Haken und näherte mich von hinten dem eingegrabenen Übungspanzer. Die drei Vogelskelette lagen immer noch im Nest neben dem Fahrersitz, vermutlich waren die jungen Vögel verhungert, weil irgendjemand das Turmluk geschlossen hatte, ich weiß es nicht, ich nehm es nur an. Der Chef war nicht beim Übungspanzer, und so suchte ich weiter, bog Gesträuch auseinander, spähte auf die Schienen hinab, folgte dem zerwühlten Weg, der zu den

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