Lenz, Siegfried
Häuserattrappen führte. Einmal schreckte ich einen Hasen auf, einmal warf ich mich auf die Erde, weil ein sausender Luftzug knapp über meinen Kopf hinwegging, ein scharfes Wehen wie von sehr großen Schwingen.
Und plötzlich sah ich in einer Hausattrappe ein Streichholz aufflammen, es entzündete keine Tabaksglut, es wanderte an einer Wand entlang, an einem Holzbalken in der Wand, der noch nicht geklaut worden war wie all das andere, das man verbrennen konnte. Drei, vier Streichhölzer flammten auf, und alle warfen ihr bescheidenes Licht auf den Balken, der wohl auf seine Brauchbarkeit geprüft wurde. Da schlich ich mich näher heran, denn ich dachte, daß gleich ein Brecheisen in die Mauer fahren, daß die Mauer zusammenkrachen und den Balken freigeben würde, doch alles blieb ruhig.
Er packte mich von hinten, sein Würgegriff war so fest, daß ich kaum noch Luft bekam, und langsam hob er mich vom Boden hoch und schüttelte mich. Mein Herz schlug gegen die Rippen; ich wollte schreien, doch ich konnte es nicht, und als ich schon das Schlimmste dachte, ließ er mich los und riß mich am Hemd herum und fragte nur: Wer bist du, hm? Wer bist du? Zuerst konnte ich gar nichts sagen, so groß war mein Schreck, ich brauchte eine ganze Zeit, bis ich ihm antworten konnte: Aus den Baracken, von dort, und ich zeigte auf die schwachen Lichter. Da wollte er gar nicht mehr wissen, was ich hier draußen suchte, er sagte: Hier gibt’s nichts mehr zu stehlen; was zu stehlen war, habt ihr längst weggeschleppt, und dann sagte er auch noch: Laß dich hier nicht wieder sehen, ihr habt hier draußen nichts zu suchen, ihr gehört nicht hierher. Es war Lauritzen, der das zu mir gesagt hat, ich hab ihn bei unserer nächsten Begegnung gleich wiedererkannt an seiner Stimme, der krumme, eigensinnige Lauritzen, der nie erfuhr, wem er auf dem Exerzierplatz gedroht hatte.
Alle waren schon zu Hause, auch Max, alle warteten auf den Chef, der nicht kommen wollte, obwohl es schon lange dunkel war und nichts mehr sich selbst glich; wir hielten die Fenster besetzt, horchten auf den Flur hinaus und fingen allmählich an, uns ein Unglück auszudenken, das ihn getroffen haben könnte: Wenn er nun aber, und falls ihn nun jemand, und er könnte doch auch; so fragten wir uns. Einmal hat eine Frau so laut im Traum geschrien, daß es in der ganzen Baracke zu hören war, doch keine Tür öffnete sich, und keine Schritte huschten hin und her, wir kannten das schon. Es war wohl sehr spät, als Dorothea mit der Taschenlampe hinausging, nur der zuckende, schwenkende Schein war zu sehen, der hierhin und dorthin in die Dunkelheit stach, sich sogar in die Wipfel der Kiefern verirrte, aber auch von der Taschenlampe ließ sich der Chef nicht finden. Wir haben dann das elektrische Licht ausgemacht und gewartet, keiner sagte mehr etwas, nur Max fragte einmal, ob er sich eine Gurke aus dem Steinkrug nehmen dürfe, und wir hörten zu, wie er sich zum Krug hintastete, das Pergamentpapier löste und da fischte, und plötzlich hatte auch ich eine tropfende Gurke in der Hand.
Die beiden Männer, die den Chef brachten, hatten wir nie zuvor gesehen, beide trugen gefärbte Uniformen und Soldatenstiefel. Sie hatten den Chef untergehakt und schleiften ihn herein, schleiften ihn bis zu seinem Strohsack und ließen ihn so berechnet fallen, daß er sich nicht weh tat, und dann grüßten sie Dorothea militärisch und schoben ab, polternd über den langen Flur. Der Chef schluckte immerfort, Speichel floß aus seinem Mund, und ab und zu wischte er sich übers Gesicht, als wollte er Fliegen verscheuchen, und mit den Füßen machte er scharrende Bewegungen. Es gluckste aus ihm, er röchelte. Manchmal ging ein schwaches Lächeln über sein Gesicht. Alle setzten sich auf Joachims Lager und sahen zu, wie Dorothea den Chef auszog, die Stiefel zuerst, dann die Strümpfe und die Joppe und das Hemd, zuletzt zog sie ihm die lehmverschmierte Hose aus, und dann wurde ich zum ersten Mal gewahr, wie viele Narben der Chef hatte, eine lange, geschwungene über der Hüfte, zwei sternförmige an der Schulter, am Oberschenkel hatte er eine Narbe und eine rot unterfeuerte auf der Brust, insgesamt habe ich neun Narben gezählt. Sein Körper war breit, gedrungen, fettlos, die Haut straff gespannt; wie er so lag, erschienen mir die Arme reichlich lang. Er ließ alles mit sich geschehen, er blieb auch gelenkig und nachgiebig, als Dorothea ihn aufsetzte und ihm ein Nachthemd überstreifte, er schwankte und
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