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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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der hunderttausend Eichen. Das ist wohl das Schlimmste für ihn gewesen: das Ende unserer Eichen, es hat lange gedauert, bis er darüber hinweggekommen ist, aber ganz verschmerzt hat er es immer noch nicht. Manchmal, beim Verschulen, da kann sich sein Gesicht plötzlich verdunkeln, die alte Empörung kommt wieder zurück, und so, daß jeder in der Nähe es hören kann, sagt er: Hoffentlich hat hier jeder Baum seinen Arierpaß, sonst gnade euch Gott.
    Zuerst wußte ich damals gar nicht, was er vorhatte, er kam aus dem Dänenwäldchen, in einer Hand trug er eine drei- oder vierjährige Eiche, die er dort ausgebrochen hatte, und als er mich sah, da hieß es nur: Los, Bruno, komm mit; und ich ließ alles liegen und begleitete ihn. Es waren bestimmt mehr als hunderttausend Eichen, die wir auf dem Stück zwischen Findling und Mauer verschult hatten, der Chef wollte sie dort haben, auf dem tiefgründigen Boden, der in der Soldatenzeit mit Kuschelfichten bedeckt war, und wie er es vorausgesehen hatte, entwickelten sie sich gut. Ah, wie er das mitgebrachte Bäumchen hinwarf, wie er auf eine unserer Jungeichen zeigte und mir befahl: Reiß sie raus, los, und als ich zögerte und ihn nur anguckte, seinen Befehl wiederholte mit einem Ernst, der mich erschreckte; da packte ich den glatten dünnen Stamm, ruckte, riß und zog, und es tat mir weh, als die Wurzel knallte. Leg sie hin, Bruno, beide nebeneinander, und dann erklär mir den Unterschied; das sagte er, und weil ich immer noch nicht begriff, was er von mir erwartete: Vergleich sie miteinander, mach schon. Da war kein Unterschied zu finden, im Wurzelwerk nicht und nicht an den Stämmen, und auch an den Blättern nicht, die gestielt waren und tiefbuchtig, wie sie bei der Wintereiche zu sein haben, ich brauchte nicht lange zu forschen, denn ein Bäumchen war wie das andere. Nix, sagte ich, ich kann keinen Unterschied erkennen, und der Chef darauf: Siehst du, Bruno, ich auch nicht; aber die Büroärsche, die im Ministerium hocken, die können dir angeblich den Unterschied erklären, und weil sie sich das zutrauen, wollen wir sie mal zu uns herausbitten, diese Schreibtischhengste, diese Trockenschwimmer. Er schüttelte den Kopf und seufzte und verzog sein Gesicht, er preßte seine Finger zusammen, daß es knackte, und dann trat er oben zwischen die Bäumchen und untersuchte ein paar aus der Nähe, es entging mir nicht, daß er mitunter nachdenklich über das ganze Quartier blickte und die Achseln zuckte, geradeso, als wüßte er nicht, was aus dem Eichenquartier werden sollte. Dann rief er mich zu sich. Dann sichelte er mit der Hand über die jungen Kronen hin. Dann sagte er: Stell dir vor, Bruno, wenn die weg müßten, allesamt. Weg, sage ich. Es ist ein Bescheid gekommen vom Ministerium.
    Sie hatten sich neue Vorschriften ausgedacht, dort auf dem Ministerium, und um die abzusichern, hatten sie auch noch alte Vorschriften ausgegraben; der Chef sagte, daß es die schlechtesten Vorschriften seien, die einer sich denken kann, jedenfalls verlangten sie, daß alle Bäume von deutschem Saatgut stammen müßten, sonst dürften sie nicht verkauft werden. Also Stammbaum, Bruno, stell dir vor, diese Sachverständigen verlangen für jede Pflanze einen Stammbaum, das haben sie sich in ihren Stuben ausgedacht; sie wollen, daß in deutsche Erde nur deutsches Saatgut kommt, fehlt nur noch, daß sie uns zur Düngung deutsche Kuhscheiße vorschreiben. Er sagte auch noch: Gottseidank sind wir nicht betroffen, wir können alles nachweisen.
    Mehr erfuhr ich zunächst nicht von ihm, weil Max für ein paar Stunden gekommen war und in der Festung wartete, und da der Chef es so wollte, begleitete ich ihn, und wir begrüßten Max, der noch am Abend in Kiel sein mußte, wo er zu vielen Menschen sprechen sollte. Es gab Schokoladenpuffer, aber auch den Lieblingskuchen von Max, schwere, angewärmte Mohnschnitten, Dorothea sorgte dafür, daß ich als einziger gleich von beiden Sorten auf dem Teller hatte, Max lächelte nur, aber ein Signal zum Wettessen wie in alten Zeiten, das gab er mir nicht.
    Noch während wir aßen, schob er dem Chef ein Gastgeschenk über den Tisch, sein neuestes Buch; der Chef starrte es eine ganze Weile an, ehe er es zu sich heranzog und aufklappte und, nachdem Joachim ihm die Brille gereicht hatte, auch zu lesen begann, hier und da ein bißchen. Er nickte anerkennend und sprach langsam den Titel aus: Abschied von den Werten, danach legte er wie abwägend den Kopf schräg, nahm die

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