Lenz, Siegfried
Brille ab und wischte sich über die Augen. Ach, Max, sagte er und gab ihm zum Dank die Hand, damit werde ich mich bei Sonnenaufgang beschäftigen, dir bin ich nur in aller Frühe gewachsen. Und lächelnd sprach er noch einmal den Titel des Buches aus und sagte: Für uns entdecken wir sie gerade wieder, die Werte, wir kriegen sie per Verfügung ins Haus, vom Ministerium, hier, lies mal.
Und Max las das Schreiben, das der Chef aus seiner Brusttasche fischte, las es und amüsierte sich und stieß einen Preßlaut aus vor Unglauben, und bevor er noch etwas sagte, nahm Dorothea ihm das Papier aus der Hand und hielt es ans Licht, um selber zu lesen. Die spinnen wohl, sagte Max, deutsches Saatgut, deutsche Bäume, das erinnert so schön an das Artengesetz, an das Rassegesetz, vielleicht werden sie demnächst noch von Blutschande zwischen Bäumen reden. Sie sind eben auf Reinheit aus, sagte der Chef, nur das Reine kann sich im deutschen Wind behaupten, die minderwertigen Bestände müssen ausgemerzt werden, sie nennen es wörtlich so – ausgemerzt. Reinheit, wenn ich das schon höre.
Das ist doch nur zur Sicherung der Nachzucht, sagte Dorothea, wenn einer Bäume setzen will, dann möchte er doch auch wissen, woher die kommen. Ja, Dotti, sagte der Chef, das ganz gewiß, aber die Urheber dieser Vorschriften haben etwas übersehen, nämlich daß es am Ende eine schlimme Inzucht geben kann. Es ging eine Weile hin und her zwischen ihnen, Dorothea erinnerte an den Mann, der sehr viele französische Kiefern kaufte, ohne zu wissen, daß sie von krüppelwüchsigen Eltern stammten, und der Chef erinnerte an die große Bereicherung durch die japanische Lärche und die amerikanische Douglasie; Dorothea sprach von den Risiken bei Bäumen ungewisser Herkunft, und der Chef sprach von der Besserung des Bestandes durch fremdes Saat- und Pflanzgut, einig wurden sie sich nicht, einig nicht.
Dann aber forderte der Chef Joachim auf, den gewünschten Stammbaum für unser Saatgut zu liefern, den läppischen Stammbaum, wie er sagte, und Joachim, der sich immer schon um das Saatgut kümmern mußte und es im Auftrag des Chefs von einer Darre in Klein-Sarup beschaffte, begann auf einmal zu drucksen, er bekam einen trockenen Hals und konnte keinen Blick mehr aushalten, und auf die Tischplatte hinabsprechend kam er damit heraus, daß er einen Teil unseres Saatguts aus der neuen Klenge in Hollenhusen bezogen hatte und nicht aus Klein-Sarup.
Die Stille auf einmal, die Enttäuschung und die Stille. Dorothea war es, die Joachim beizustehen versuchte, sie sagte: Warum sollen wir unser Gut nicht mal aus Hollenhusen beziehen, Peter Landeck beliefert viele, und außerdem ist er Joachims Freund. Der alte Smissen in Klein-Sarup ist mein Freund, sagte der Chef, bei ihm weißt du immer, woran du bist. Da wollte Joachim gleich aufbrechen und nach Hollenhusen fahren, um sich die Garantiebestätigung für anerkanntes Saatgut zu holen, aber Dorothea sagte, daß das ja wohl Zeit habe bis zum nächsten Tag, und dann schenkte sie allen Kaffee nach und bat Max, der nur selten zu uns kam, mehr von sich zu erzählen, von seiner Arbeit, seinen Freunden. Bevor er ging, hat er so halb und halb versprochen, bei einem seiner nächsten Besuche die Musiklehrerin mitzubringen, mit der zusammen er ein altes Haus bewohnte, in dem immer etwas repariert werden mußte. Joachim brachte ihn zum Bahnhof, er ließ es sich nicht nehmen, er bestand einfach darauf; da ahnte ich schon, was er in Hollenhusen vorhatte. Der Chef, der wußte schon wieder alles im voraus.
Nie bin ich dahinter gekommen, was ihm dabei hilft, daß er so vieles voraussehen kann, ich bin mir nicht sicher, ob er sich das, was uns bevorsteht, ausrechnet, oder ob er es wittert oder einfach weiß, manchmal hab ich ihn darum beneidet, daß er kaum überrascht werden kann, manchmal jedoch tat er mir deswegen auch leid. Es sollte mich nicht wundern, wenn er insgeheim auch schon weiß, ob der Schenkungsvertrag seine Gültigkeit behalten wird und was aus uns hier wird, aus mir, aus ihm und den andern, es sollte mich nicht wundern.
Wir wuschen uns beide zu Feierabend unter dem kühlen Strahl, als Joachim auftauchte, unschlüssig und verklemmt, ich merkte gleich, daß er den Chef allein sprechen wollte, doch der schickte mich nicht fort und beeilte sich auch nicht, er wusch sich den Nacken und tauchte seine Arme in das Becken, und dann tranken wir beide noch ein wenig aus dem Strahl. Joachim wartete, er guckte mich an, den
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