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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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Klassenraum mit den engen Bänken, da hatten sie schon ausprobiert, wie empfindlich meine Kniekehlen waren und mein Nacken, und die aufgeblasene Papiertüte, die sie an meinem Hinterkopf platzen ließen, hatte ihnen auch schon gezeigt, wie schreckhaft ich war. Ich war traurig, daß keiner neben mir sitzen wollte, weder Jens Redlefsen noch Lars Luderjahn wollten zu mir hinüberwechseln, am ersten Tag nicht und später nicht; dafür ließ mich unsere Lehrerin Fräulein Ratzum in der ersten Reihe sitzen, dicht bei der Tür. Fräulein Ratzum nannte mich immer nur »unsern Bruno«; wenn sie meine Meinung hören wollte, dann fragte sie: Was sagt denn unser Bruno dazu? oder: Möchte sich unser Bruno auch dazu äußern? Und manchmal fragte sie auch nur: Und unser Bruno?
    Einmal hat sie uns von der Erfindung des Rades erzählt, sie hat gesagt, das Rad sei eine der schönsten und wichtigsten Erfindungen, zum Transport zum Beispiel, zur Fortbewegung, überhaupt, erst das Rad hat uns geholfen, die Ferne zu erobern. Als sie plötzlich fragte: Was meint unser Bruno dazu?, habe ich gesagt, daß auch die Pflanzen allerlei erfunden haben, um ihre Samen zu transportieren und die Ferne zu erobern: der Löwenzahn zum Beispiel, der seine Fallschirme ausschickt, die Klette, die sich an den Fuchs hängt, die Propellersamen der Linde und die Ähren des Wildhafers, die krabbeln und hüpfen können und ziemlich weit kommen. Fräulein Ratzum war zuerst überrascht, aber dann hat sie mir recht gegeben und vor allen gesagt: Unser Bruno hat sich Gedanken über ein großes Geheimnis gemacht. Das hat sie gesagt und mich aus beiden Augen, aus dem blaßblauen und dem grünlichen, nachdenklich angesehen.
    Fräulein Ratzum war ganz übersät mit Sommersprossen – gefleckt und gesprenkelt die Stirn und der Hals und die fleischigen Arme; sie trug durchgeknöpfte Wanderschuhe und meistens graue Wollkleider; wenn sie mit uns ein Lied einübte, flackerten im Hintergrund ihrer verschiedenfarbigen Augen zwei kleine Lichter. Sie wohnte für sich auf dem Altenteil eines Hofes, ich weiß noch: bei Steenberg, und wenn man über die Hecke linste, konnte man sehen, wie sie sich wusch oder allein aß und unsere Hefte korrigierte. Als Schnee fiel, bin ich schon sehr früh an der Hecke gewesen und habe dort im Dunkeln gewartet, bis sie rauskam, und dann habe ich ihr angeboten, ihre Tasche zu tragen, und sie hat mir den Schnee vom Haar gewischt und gesagt: Unser Bruno ist ein wirklicher Kavalier. Ich habe oft auf sie gewartet, bei Glatteis, bei Tauwetter, wenn unsere Straße absoff, einmal sind wir Hand in Hand über Matsch und Pfützen gesprungen, und als die Morgen heller und wärmer wurden, haben wir einen Umweg über das Dänenwäldchen gemacht, und ich habe ihr gezeigt, wie die Ameisen die Samen der Veilchen wegtransportierten. Am liebsten hätte ich sie für mich allein als Lehrerin gehabt.
    Es ist nie herausgekommen, wer ihren Stuhl so mit Leim bestrich, daß sie mit ihrem Wollkleid daran festklebte, doch die Leimtube, die fand sich auf einmal in meinem Schulranzen, Fräulein Ratzum selbst fischte sie bei der Untersuchung da heraus, und sie hat sie in der Hand gehalten und mich lange ungläubig angesehen, und ihre verschiedenfarbigen Augen wurden feucht. Tränen kamen ihr nicht, ihr Kinn hat nur einen Augenblick lang gezittert, und ihre Lippen haben gezuckt, und das war schon alles. Sie hat die Rückseite des Rocks nach vorn geholt und den Fleck betrachtet, der sich schon eindunkelte, sie hat auch ein bißchen zu reiben versucht, bekam jedoch gleich klebrige Finger, was die Bande hinter mir kichern und glucksen ließ. Ich sprang auf und wollte etwas sagen, doch mein Hals schwoll und wuchs zu, meine Hände wurden naß, in den Schläfen wummerte es, und obwohl meine Lehrerin jetzt dicht vor mir stand, sah ich sie wie durch einen Schleier, und ich hörte sie mit gedämpfter Stimme sagen: Warum, Bruno, warum hast du das gemacht, ich konnte nie klug aus dir werden, aber jetzt weiß ich, du bist wie die andern. Und sie sagte auch noch, ohne die Lippen zu bewegen: Ich bin traurig, sehr traurig; von mir hast du nichts mehr zu erwarten. Sie ließ mich stehen und ging zu ihrem Katheder und schrieb, es wurde ganz still in der Klasse. Ich stand und stand und horchte auf die Klopfgeräusche in meinem Kopf. Bis zum Ende der Stunde mußte ich stehn, und als sie das Klassenzimmer verließ, nickte sie mir nicht zu wie sonst.
    Die Vögel waren noch nicht wach, da kauerte ich am

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