Lenz, Siegfried
merkt man, wie weit der Weg ist; wir gingen und gingen, und sie verrieten mit keinem Wort, was sie mir zeigen wollten, auf meine Fragen nickten sie immer nur beschwichtigend: Wirst schon sehen, erst einmal weiter. Mir entging nicht, daß sie sich heimlich anstießen und auf etwas vorbereiteten, das entging mir nicht. Wir waren ganz naß, als wir am Bahnhof ankamen, und sie führten mich gleich über eine mickrige Grasfläche zur Pappel, auf die jeder zugehen mußte, der den Bahnhof verließ.
Das Plakat, ja, zuerst sah ich nur das Plakat, das da mit Reißzwecken in Augenhöhe befestigt war, und ich wunderte mich und schaute mich nach ihnen um, die jetzt dicht neben mir standen und meinen Blick abwiesen und ihn zu dem Plakat hinlenkten: Nun guck doch genauer hin. Ich las die Überschrift: Kinder suchen ihre Eltern; ich sah schnell über die sechs abgebildeten Kindergesichter, sie kamen mir wie Geschwister vor, alle stumpfnasig und mit starrem Blick, alle großköpfig – aber das lag wohl am Format. Um zweckdienliche Auskunft bat das Rote Kreuz, das weiß ich noch. Und dann sagte Heiner Walendy dicht an meinem Ohr: Der in der Mitte, der mit dem verrutschten Auge, kommt er dir nicht bekannt vor? Und plötzlich erkannte ich mich. Unter dem Photo stand: Bruno Messmer, mein Name, mein Geburtstag. Meinen Heimatort konnten sie nur vermuten, vielleicht Schlohmitten an der Memel. Kinder suchen ihre Eltern, das stand groß auf dem Plakat. Das bin ich, sagte ich zu den anderen, das bin ich, und auf einmal wurde es mir ganz heiß, und ich holte mein Messer heraus, um die Reißzwecken zu lösen, die kräftig in das Holz hineingedrückt waren. Das darfst du nicht, sagte Heiner Walendy, das Plakat darfst du nicht abmachen, und er packte mein Handgelenk und zog es herab, und die andern lachten. Sie lachten, und einer sagte: Unser Bruno weiß nicht mal, woher er kommt; und ein anderer sagte: Unsern Bruno, den haben sie in einem Krähennest gefunden. Und während Heiner Walendy immer noch mein Handgelenk festhielt, beschlossen sie, das Plakat in der Schule aufzuhängen, an die Tafel wollten sie es pinnen und mein Photo einkasteln und ausmalen. Da stieß ich sie zurück und riß das Plakat herunter, es war nur an den Enden zerfetzt, und ehe sie sich faßten und über mich herfielen, hatte ich es schon unter mein Hemd geschoben, unter mein nasses Hemd. Sie warfen mich gleich auf die Erde, und Heiner Walendy drückte mein Gesicht in das Tulpenbeet und verlangte das Plakat. Er ritt auf mir. Er drohte und forderte. Mit seinen Fäusten betrommelte er meinen Schulranzen. Erde war in meinem Mund, und in meinem Kopf dröhnte es. Ich weiß nicht mehr, woher ich auf einmal die Kraft hatte, mich abzustemmen und auf die Seite zu werfen, ich scharrte und fuchtelte und kam auf einmal frei, und Heiner Walendy, der eben noch auf mir geritten hatte, kippte langsam ab und blieb ruhig liegen. Da rannten die andern schon, und auch ich lief los, flitzte über die Gleise und den Schotterweg entlang, immerfort Erde spuckend, das Plakat unter meinem dreckigen Hemd, ich lief zu den Kuschelfichten auf dem Exerzierplatz, wollte mich da verstecken, glaubte dann aber doch, noch mehr Deckung in dem eingegrabenen Übungspanzer zu finden, den der Chef sprengen wollte, aber immer noch nicht gesprengt hatte. In der Kühle, in der Dämmerung hab ich auf dem Sitz des Richtschützen gesessen, das Turmluk war geschlossen, Licht kam nur durch die Sehschlitze, genug Licht, um mein Photo auf dem Plakat wiederzufinden, das ich auf den Knien hielt. Es war eines der Photos, die Dorothea von mir hatte machen lassen, ohne sie mir jemals zu zeigen. Lange sah ich auf mein Bild, las immer wieder die Bildunterschrift, und meine Trauer wurde so groß, daß ich nur noch den Wunsch hatte, zu verschwinden, für ein ganzes Jahr zu verschwinden in einer Erdspalte oder irgendwo. Ich stellte mir vor, daß die Erde sich öffnete, einfach aufrisse, und daß der Übungspanzer tiefer und tiefer sackte, bis er auf Grund geriet, bis nachstürzende Brocken ihn ganz zugedeckt hätten, so daß keiner uns aufspüren konnte unten in der Erde. Vergessen zu werden für eine Zeit, das wünschte ich mir. Aber dann hörte ich die Stimmen, die Rufe, sie kamen gedämpft aus der Ferne, aus der Dunkelheit, die über dem Exerzierplatz lag. Fackeln schwankten. Der Lichtstrahl von Taschenlampen wanderte den Boden ab. Durch den Sehschlitz erkannte ich, daß sich die Kette der Suchenden zum feuchten Land
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