Lenz, Siegfried
und wartete und hörte die Worte Ostgoten und Westgoten, nein, jetzt hörte ich die Worte nicht mehr, ich dachte sie einfach nach, weil unsere Lehrerin sie laut genug vordachte: Also die Ostgoten machten sich ein Reich in den südlichen Steppen Rußlands, und sie unternahmen große Raubzüge und besiegten einige Kaiser und verwüsteten Thrakien. Unser Bruno hat sich gut vorbereitet, sagte Fräulein Ratzum und starrte mich plötzlich besorgt an und fragte: Ist was, ist dir schlecht, hast du Fieber? Du bist ja ganz naß von Schweiß. Sie bugsierte mich zu meiner Bank in der ersten Reihe, und ich kam nicht mehr dran an diesem Tag, selbst beim Singen durfte ich sitzen bleiben, und nicht nur dies – am Ende der letzten Stunde nickte sie mir zu wie sonst. Vielleicht hat Heiner Walendy mir deswegen aufgelauert, er, der die Schlechtigkeit im Blick hatte, doch ich erkannte ihn früh und kletterte auf meine Föhre hinauf, kletterte bis zur höchsten tragenden Astgabel.
Weg, Bruno, sie sind weg, die mageren Quälgeister, jetzt kannst du zum Schleifen gehn – jetzt werde ich die Klingen über den Ölstein ziehen, daß das Holz die Schnitte gar nicht merkt, so sauber werden sie sein, so glatt und klar. Seit der Chef mir die Aufsicht gegeben hat über Messer, Scheren und Sägen und alles Veredlungsgerät, hat sich noch keiner beklagt über stumpfe Klingen oder verschmutzte Zähne der Sägebänder, bei mir hat alles seine Schärfe, seinen Biß, weil ich Winkel anschleife, wo Winkel hingehören, und die Schneiden flach lasse, wenn sie ursprünglich flach waren. Sind die Werkzeuge stumpf, dann kann es leicht Quetschwunden geben, hat der Chef gesagt, und darum prüfe ich jede Schneide auf ihre Schärfe, nehme mir ein weiches Holz und probiere Aufwärtsschnitte. Zuerst war es gar nicht leicht, all die Namen zu behalten, da müssen Okulier- und Kopuliermesser unterschieden werden, wir haben Hippen und Schnelläugler und dazu Amboß-Scheren und Baumbeutel und Papageienschnabelscheren und ich weiß nicht wie viele Sägen, doch es hat nicht lange gedauert, bis ich alle kannte, und jetzt brauche ich nur eine Griffschale in der Hand zu halten, dann weiß ich selbst im Dunkeln, welches Schneidewerkzeug es ist. Schleifen mag ich noch lieber als Umtopfen, es schmirgelt so schön, wenn der Ölstein den Stahl bearbeitet, es wetzt und zischt, und in meinem Bauch fängt es dann an zu kribbeln, gerade als ob ich gekitzelt werde. Hier ist das Sandpapier, hier der Lederriemen, der Lappen, das Ölkännchen, aus dem Gelenke und Federn etwas bekommen werden, jedes nur einen berechneten Tropfen. Einmal fehlte mir ein Stecklingsmesser mit geschliffener Spitze, ich hab es gleich gesehn, als ich die Schublade aufzog, und ich suchte und suchte das ganze Gerätehaus ab und die Quartiere, ohne es zu finden, und dann stellte es sich heraus, daß der Chef selbst das Messer herausgenommen hatte, nur um festzustellen, ob ich auch alles sorgfältig verwaltete, was er mir anvertraut hatte.
Das Messer, das Joachim mir einmal schenkte, hatte keine Edelstahlklinge, keine Messingeinlage, es hatte auch nicht den Griff aus Nußbaumholz, es war nur ein flaches silbriges Messer mit Korkenzieher. Ich hatte dem Chef nicht erzählt, daß Joachim dabei war, als ich an die Gerichtslinde gefesselt wurde und es dort eine ganze Nacht aushielt, ohne um Hilfe zu rufen, ich hatte Angst, mich an irgendeinen Namen zu erinnern, weil der Chef so aufgebracht war und mit allen einzeln abrechnen wollte, die mich festgebunden hatten, er wollte jedem den Hals umdrehen; das hat er gesagt. Joachim hockte auf seinem Lager und machte sich klein und sagte kein Wort, und ich sah, daß auch er Angst hatte. Als wir dann allein waren, zeigte er mir das Messer, er zeigte es mir und fragte, wie es mir gefiele; da wußte ich schon, daß er es mir schenken wollte und wofür. Du kannst es behalten, sagte er mir, und das war schon alles.
Verloren, auch dieses Messer habe ich verloren, vermutlich beim Hollenhusener Bahnhof, im Tulpenbeet unter der Pappel, zu der sie mich nach der Schule schleppten, zwinkernd und mit geheimnisvollen Andeutungen. Redlefsen war dabei und Luderjahn und ein zahmer Heiner Walendy, sie konnten das Ende der letzten Stunde kaum erwarten, sie machten mir Zeichen, während Fräulein Ratzum an der Tafel stand und schrieb, und die Zeichen besagten: Abgemacht, beeil dich, wir erwarten dich auf dem Schulhof.
Erst wenn man im Regen von der Schule zum Hollenhusener Bahnhof gehen muß,
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