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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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nächsten Morgen schon hinter der Hecke, die Vorhänge in ihrer Stube waren noch zugezogen, Steenbergs Hund lag vor seiner Hütte auf dem harten Lehmboden und blinzelte mich an – wir kannten uns bereits so gut, daß er nicht mehr anschlug. Dann sangen die Vögel, zuerst machten sie nur Stimmproben hier und da, der Buchfink und der Fliegenschnepper, aber auch die Drossel und die Lerche und die Goldammer, und allmählich stimmten sie ihren Gesang aufeinander ab, und ich mußte denken, daß Fräulein Ratzum all die Einsätze mit ihnen geübt hätte, daß überhaupt der ganze Chor von ihr zusammengestellt worden war. Ich hielt es kaum noch aus vor Ungeduld, ich kauerte nicht mehr hinter der Hecke, sondern ging hin und her, und auf einmal hörte ich, wie Fräulein Ratzum ein Fenster öffnete, und da war ich schon bei ihr und wünschte ihr einen Guten Morgen.
    Zuerst lächelte sie überrascht, dann aber ging ein Schatten über ihr Gesicht, und sie sagte leise: Es ist wohl besser, Bruno, wenn jeder für sich geht. Ich wollte ihr schnell sagen, was ich mir zurechtgelegt hatte, alles, was sie erfahren sollte, war Wort für Wort überlegt, aber auf einmal konnte ich nichts herausbringen, weil ich das graue Wollkleid ansehen mußte, das auf einem der Bügel vor dem Schrank hing. Es hatte rostbraune Flecken, wie versengelt sah es aus, von einem zu heißen Plätteisen versengelt. Unsere Lehrerin gab mir einen Klaps auf die Wange, nicht warnend, nicht strafend, sondern nur auffordernd, und dann sagte sie: Unser Bruno wird nun eine Zeitlang schön allein gehen; und mehr sagte sie nicht.
    Ich lief fort, lief über die Wiesen und an der Holle entlang zum Dänenwäldchen, ich konnte nicht anhalten, wollte nur weiter und weiter, aber am Großen Teich, da stellten mir Erlenwurzeln ein Bein, und ich fiel hin und blieb liegen im Gras. Das Wasser war torfbraun, in der Tiefe schimmerte es golden, und dort, wo das Schilf hineingewandert war, blitzte es wie aus kleinen bewegten Spiegeln. Schlammwolken lagen über dem flachen verkrauteten Grund. Ich kroch ganz nah ans Wasser heran, und das Dröhnen, das ich beim Laufen gespürt hatte, nahm langsam ab, es hörte ganz auf, als ich mir eine verrunzelte Kalmuswurzel brach und ein bißchen von dem bitteren Fleisch aß. Die Wasserspinnen. Die Libellen. Die Käfer, die sich einfach absinken ließen. Überall lief es und ruderte und lauerte. Zwei Bläßhühner, immer nickend. Die Schleie, die plötzlich sprang. Am andern Ufer der Iltis, der krausnasig lauschte. Ich wollte ihm nachschleichen, doch er lockte mich nur zum Dänenwäldchen hinüber und verschwand auf einmal.
    Ich weiß nicht, warum die andern so gegrinst haben, als ich in die Klasse kam, vielleicht, weil ich schmutzig war und verklebt und mit Kletten behängt, ich weiß es nicht mehr – ich weiß nur, daß ich zum ersten Mal zu spät zum Unterricht kam. Gleich mußte ich den Zeigestock nehmen und vor die Europa-Karte treten, blau, grün und rosa, gleich wollte Fräulein Ratzum von mir wissen, woher die Goten kamen, wohin sie wanderten und in welche Stämme sie zerfielen, zerfielen, ja: Unser Bruno wird uns das jetzt mal sagen. Da wurde der Zeigestock unruhig, er hob sich, tippte hier und da auf Gebirge und Wasser, kreiste unsicher und wollte sich nicht festlegen. Schwer und immer schwerer wurde meine Hand, schon starb das Gefühl für den Stock, und ein anderes Gefühl machte sich bemerkbar, so ein Schnüren, ein Pressen, ich spürte, wie es in meinen Fingern zu pulsen anfing, und vor meinen Augen sah ich deutlich eine Spirale, die sich drehte. Skandinavien, sagte eine Stimme, die nur die Stimme unserer Lehrerin sein konnte, und ich tippte mit gesammelter Konzentration auf Skandinavien, und Fräulein Ratzum lobte mich und bestätigte: Ja, von Skandinavien kamen die Goten und zogen zunächst zur Bernsteinküste und zur Weichselniederung. So, und nun weiter; doch ich wußte nicht weiter, ich ließ den Zeigestock pendeln und überlegte und horchte, bis ich aus der Ferne wieder die Stimme hörte, bis sie klar genug sagte: Du bist doch nahe dran, Bruno, zwischen Karpathen und Dnjepr war eins ihrer Reiche. Sofort schlug ich einen großzügigen Kreis zwischen Karpathen und Dnjepr, und Fräulein Ratzum sagte zufrieden: Siehst du, und zur Klasse: Merkt euch das, was unser Bruno aufzeigt.
    Ich sah in ihr sommersprossiges Gesicht und wartete, mein linkes Auge brannte, etwas kam zwischen die Lippen, das säuerlich schmeckte, doch ich hielt es aus

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