Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
Vom Netzwerk:
verlorenen Quartieren im Osten mitgebracht hatte, lief auf und hob sich und breitete sich aus unter den Glasscheiben, die der Chef über die Töpfe und Schalen gelegt hatte. Wenn er auf seinem dreibeinigen Hocker saß und das Aufgelaufene betrachtete, dann wollte er nicht angesprochen werden, still mußte ich mich verhalten, ich durfte nicht herumgehen, nicht hantieren, auch zu nahe kommen durfte ich ihm nicht, ich weiß nicht, warum, aber ich weiß, daß er mitunter die Lippen bewegte, daß er leise auf die Keimblätter hinabredete, auf die Kotyledonen. Manchmal, wenn ich auf dem rohen Arbeitstisch saß und ihm zusah, fühlte ich mich gar nicht mehr in meinem Körper, und ich vergaß zu atmen; alles summte dann, alles wurde leicht, und ich erschrak noch jedesmal, wenn der Chef aufstand und sagte: Komm, Bruno. Kein einziges Mal traf ich Joachim oder Max in unserm Schuppen, selten Dorothea und noch seltener Ina, ich glaube, daß der Chef am liebsten mit mir dort war, und das vor allem, weil er mich nach einer Weile gar nicht mehr bemerkte. Eines abends, als er mich beinahe eingeschlossen hatte, sagte er: Entschuldige, Bruno, aber dich kann man schon mal vergessen, ich hab gar nicht bemerkt, daß du bei mir warst.
    So wie ich meinen eigenen Garten haben mußte, den ich mit Flintsteinen eingrenzte, so mußte ich damals auch mein eigenes Saatbeet haben, der Chef nickte dazu, und er hatte nichts dagegen, daß ich Humuserde zum alten Bootsskelett trug, das wir aus dem feuchten Land ausgegraben hatten, und den gut erhaltenen Bootsboden ausschüttete. Das Boot war vielleicht hundert Jahre alt, gegen die Härte der Spanten kam kein Messer an, schon nach wenigen Tagen begann das Holz sich unter der Sonne zu verfärben; es verlor seine Schwärze und wurde graubraun. Da es keine Ruderbänke hatte, konnte ich das Beet über die ganze Bootslänge anlegen, und dann säte ich Holunder, Eberesche und Stechginster ein, das eine angerottet, das andere gewaschen, und nach seiner Zeit lief das meiste auf, gegen den Wind durch Sackreste geschützt, die ich an den Spanten festgebunden hatte. Um meine kleine Pflanzung gegen Kaninchen zu sichern, legte ich einige Drahtschlingen aus, doch der Chef wollte es nicht haben, er sammelte wortlos die Schlingen ein und trug sie zur Bretterbude in der Senke.
    Am liebsten saß ich im letzten Licht auf der Erde über dem Bootskiel, ich dachte mir ein braunes Segel und ein aus Ästen geflochtenes Ruderhaus, ließ die Holle breit und immer breiter werden, bis sie uns aufnehmen konnte, und dann dauerte es nicht lange, und mein schwimmender Garten trieb zu fernen Küsten, zur Mündung der Memel. Und sobald ich an die Memel dachte, an den geschwollenen Fluß, spürte ich auch schon den Schmerz, er stieg aus dem Bauch auf und drückte auf das Herz, und zuerst wußte ich nicht, wie ich mich wehren konnte, zuerst nicht, ich hockte immer nur ganz betäubt da, ganz gerädert, bis es mir einfiel, dem Schmerz zu antworten, einfach, indem ich mich niederließ und mit dem Kopf auf den Boden schlug, wieder und wieder, daß es in meinem Innern nur so dröhnte, und wenn das Dröhnen sich dann legte, war der Schmerz weg.
    Einmal fand mich so der Chef, er trat dicht neben mich heran, ohne mich aufzuheben, er stand nur und wartete, und als ich mich aufrichtete, setzte er sich neben mich und wischte mir übers Haar. Gesagt hat er nichts; erst auf dem gemeinsamen Heimweg, als wir vom Hügel aus noch einmal das bearbeitete Land überblickten, murmelte er etwas für sich, ich hab nicht alles mitbekommen, ich verstand nur, daß jeder etwas mitschleppt, von dem er sich losschlagen möchte. Dort auf dem Hügel hat er es gesagt, wo jetzt die Festung steht, in der sie ihn vermutlich gefangenhalten, ihn, der immer alles bestimmte und festlegte und dem jeder hier etwas zu verdanken hat. Wenn er jetzt am Fenster auftauchte oder auf der Terrasse: ich würde gleich hinlaufen zu ihm und ihn mitziehen ohne ein Wort, hierher, zu mir, wo ich ihn alles fragen könnte, denn er kann mir bestimmt sagen, ob ich Hollenhusen verlassen muß. Er weiß, daß es hier keinen gibt, der so zu ihm gehalten und alles mitgemacht hat wie ich, Dorothea vielleicht ausgenommen, und er wird sich wohl noch erinnern, wie gut ich die hundert Aufträge ausgeführt habe, die ich in den vielen Jahren von ihm bekam.
    Ich brauche nur an den Winter zu denken, in dem er mich mit dem Schlitten zum Dänenwäldchen schickte, um Bruchholz zu sammeln, nicht für uns, denn wir

Weitere Kostenlose Bücher