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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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allen liefen die Tränen, doch wir blieben sitzen und hörten dem Chef zu, der vom Krieg erzählte, von einem Mann, den er Boris nannte und den er weit in Rußland traf, am Schwarzen Meer.
    Sie hatten viel Land erobert, der Chef und seine Kompanie, und am Schwarzen Meer eroberten sie weite Quartiere mit Laub- und Nadelgehölzen und Kulturen von duftenden Sträuchern, und danach konnten sie nicht weiter, weil viele Männer Fieber hatten und an Geschwüren litten und an allen möglichen Schmerzen. Am Rand der Quartiere lagerten sie, es war ein trockener Sommer, der die Erde aufplatzen ließ, zu essen gab es nur Dosenfleisch und Brot. Die Quartiere waren verlassen, oder sie wirkten doch verlassen, wenn der Chef sie durchstreifte, wenn er sich in ihnen verlor, er, der weniger litt als die anderen, und der allabendlich gehen mußte, um zu seiner Müdigkeit zu kommen. Auf einem Gang in der Dämmerung traf er Boris, der mager war und bärtig und demutsvoll; er lebte in einer Laubhütte und bot dem Chef gleich Beeren an, als er ihn überraschte, auch kalten Tee bot er an, nicht ängstlich und eilfertig, sondern gelassen und mit selbstverständlicher Freundlichkeit. Über alles konnten sie nicht miteinander reden, aber der Chef erfuhr doch, daß Boris seit vielen Jahren hierher gehörte, ein Institut hatte ihn einst geschickt, hatte ihn dann vermutlich vergessen, so daß er sich ganz seinen eigenen Arbeiten widmen konnte; winters wohnte er im Gemeinschaftshaus, im Sommer in der Laubhütte. Der Chef hat nicht nur einmal, er hat mehrmals gesagt, daß Boris sein ganzes Leben damit beschäftigt war, alles über die Empfindungen der Pflanzen zu erfahren.
    Da die Ruhepause am Rand der Kulturen dauerte, hat er Boris noch manches Mal aufgesucht, sie tranken Tee, sie gingen gemeinsam über das Land, verglichen, taxierten, tauschten sich aus, so gut es ging, und wenn es auch für den Chef nicht viel Neues zu sehen gab, etwas verwunderte ihn doch: die Gewohnheit von Boris, sich mit ausgesuchten Pflanzen überraschend zu befassen, sie zu berühren oder auf unterschiedliche Weise anzusprechen. Einige tippte er nur an, anderen schnippte er mit dem Finger gegen Blatt oder Stengel, er beschattete sie plötzlich, er redete auf sie ein, ließ sie Wohlwollen oder Enttäuschung spüren, und unter Berührungen, Schimpf und lobenden Worten füllten sich kleine Blattkissen, eine junge Silberlinde stellte ihre Blätter auf, der Sinnpflanze fielen wie vor Schreck einige Stengel ab, selbst einige Blüten bewiesen, daß sie etwas empfanden – sie öffneten oder schlossen sich. Einmal behauptete Boris, daß Pflanzen sich ängstigen können, einmal zeigte er dem Chef, daß sie sogar in Ohnmacht fallen, wenn man blitzschnell einige Nachbarpflanzen ausreißt; auch Krämpfe konnte Boris bei einigen Pflanzen hervorrufen, und den Efeu hat er betrunken gemacht, indem er die Luftwurzeln in verdünnten Alkohol tunkte, das schwankte und raschelte nur so.
    Oft, wenn sie gemeinsam durch die verlassenen Kulturen gingen, riß Boris Blätter und Blüten ab, er behielt sie in der Hand und schien auf etwas zu warten, mitunter legte er sie sich auch auf die Zunge und war ganz still und gespannt, und der Chef mußte glauben, daß er die Wirkung der Pflanzen erkundete. Wie gut er die Wirkungen kannte, das hat sich herausgestellt, als er einmal die kranken Soldaten sah, die von Fieber geschüttelt, von Geschwüren geplagt wurden. Wortlos pflückte er Blätter und Blüten und tat sie in Glasbehälter, die zur Hälfte mit Quellwasser gefüllt waren. Drei Tage ließ er die Behälter in der Sonne stehen, dann übergab er sie dem Chef, und der ließ die Soldaten trinken, in Abständen, die Boris aufgegeben hatte; und schon nach kurzer Zeit wurde einer nach dem andern gesund. Der Chef überlegte, was er Boris schenken könnte, er suchte und überlegte, doch weder er noch die Soldaten hatten etwas bei sich, das ihm passend erschien, schließlich wußte er nichts Besseres, als Geld zu sammeln, und die Soldaten gaben gern. Die Laubhütte war leer, als der Chef das Geld hinbrachte, und nachdem er eine Weile gewartet hatte, legte er den Umschlag auf den Tisch und ging fort, entschlossen, am nächsten Tag wiederzukommen. Boris ließ sich nicht blicken, so oft der Chef auch zur Laubhütte ging in den nächsten Tagen und dort rief und Ausschau hielt. Niemand bewegte sich in den Quartieren, niemand gab Antwort.
    Kurz bevor er und seine Kompanie aufbrachen, ging er ein letztes Mal zur

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