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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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Laubhütte, es war ein sehr früher Morgen, und diesmal sah er Boris wieder: der magere Mann lehnte an einem der hölzernen Pfosten, die die Laubhütte trugen, lehnte da, ohne sich zu rühren. Der Chef winkte und ging auf ihn zu, schnell, immer schneller, und als er nah genug war, bemerkte er, daß die Füße von Boris nicht auf der Erde standen: langgestreckt, die Zehen nach unten, baumelten sie eine Handbreit darüber; die Schultern waren abgesackt, der Kopf lag wie lauschend auf der Seite. Boris hing in einer Schlinge, er war schon tot, und verstreut um ihn herum, im Gras, zwischen den Sträuchern, vom Wind gegen geschnittenes Astwerk gepreßt, da lagen die Geldscheine, die der Chef und die Soldaten gesammelt hatten.
    Das erzählte der Chef, als wir zum ersten Mal unter uns waren, unter dem Dach des Kollerhofs, und danach legten wir kein Holz mehr ins Feuer, wir beratschlagten uns nur für den nächsten Tag, setzten das Dringendste und das Zweitdringendste fest, jeder war einverstanden mit der Arbeit, die der Chef ihm zuteilte, auch Max. Ich durfte die Pfanne säubern und die nachgebliebenen Kartoffeln aufessen, und aus dem Hügel von Krimskram durfte ich die Dinge für mich herausfischen, die ich mir auf den ersten Blick reserviert hatte, dazu den Spiegel, der über und über mit Postkarten bepflastert war, und eine runde Taschenlampe, die ich wohl verloren habe wie so vieles andere.
    Platz war mehr als genug in meiner Kammer, ich legte die Dinge einfach ab und setzte mich auf mein Lager und begann, die Kammer im Dunkeln auszuhorchen; die Geräusche waren mir vertraut, das Knistern, das Rascheln und Murren, nur das heftige Krabbeln kannte ich nicht, das kam von zwei harten, schwarzen Käfern, die ich im Schein der Taschenlampe zerquetschte. Eilig zog sich Ina nebenan aus, sie ließ sich auf ihr Lager fallen, und dann war es still bei ihr. Unten in der Wohnstube sprach noch der Chef mit Dorothea, deutlich waren ihre Stimmen beim Kamin zu hören, dort, wo die Bodenbretter nicht schlossen. Dorothea wollte ankommen, endlich irgendwo für immer ankommen und bleiben und sich mit allem abfinden, und der Chef widersprach ihr nicht, er meinte nur, es sei noch zu früh, um sich mit allem abzufinden, darum sei er auch bereit, die Durststrecke in Kauf zu nehmen, die nun vor uns lag, er sagte: Durststrecke. Und er sagte: Wenn wir die hinter uns haben, sind wir da, wo uns nichts mehr erschüttern und umwerfen kann. Weil Dorothea fror, wollte der Chef ihr eine Decke bringen, doch sie wollte nicht länger aufbleiben, sie war gespannt, was sie träumen würde in der ersten Nacht auf dem Kollerhof.
    Ich muß rüber, muß die geschliffenen Scheren und Messer wegräumen, den Ölstein an seinen Platz stellen, denn bald wird Joachim seinen Kontrollgang machen, und wenn nicht alles seine Ordnung hat, könnte er außer sich geraten und alles, was ich liegengelassen habe, einfach verstreuen oder sogar verstecken; das hat er schon einmal gemacht. Er wäre bestimmt der erste, der mich fortschicken möchte von Hollenhusen, wenn es nach ihm ginge, dürfte ich niemals die Aufsicht haben über Messer und Scheren und das ganze Veredelungsgerät, das verdanke ich nur dem Chef, der mich einmal seinen einzigen Freund genannt hat.

Wenn Magda nicht kommt, dann werde ich noch einmal das Buch von Max lesen, zum sechsten Mal; aber sie wird kommen, sie hat es versprochen, bald muß ich auf die abgemachten Klopfzeichen achten, mitzählen, denn mitunter hat Magda schon vergessen, daß sie siebenmal klopfen muß, damit ich öffne. Wenn es zweimal klopft oder dreimal, lösche ich das Licht und lüfte das schwarze Papierrollo, so daß ich gleich erkennen kann, wer draußen steht; der Schein der großen Lampe am Hauptweg reicht bis zu meiner Tür. Ich weiß nicht, warum so oft an meine Tür geklopft wird, es sind nicht allein Inas Kinder, die kleinen Quälgeister, die klopfen und dann fortrennen, es sind auch andere, die sich anschleichen in der Dunkelheit und, wenn ich gar nicht darauf gefaßt bin, gegen die Tür hämmern, um mich zu erschrecken. Meistens ist niemand zu sehen. Fliehende Schritte sind nur selten zu hören. Bekomme ich mal eine Gestalt zu Gesicht, dann trägt sie einen langen Mantel oder eine Kapuze und ist in den Quartieren untergetaucht, bevor ich mir ein Bild von ihr machen kann.
    Magda sagt nur: Auf dich haben sie es eben abgesehen, und mehr sagt sie nicht. Ich glaube, daß es ihr ganz recht ist, wenn ich manchmal Angst habe, und dann und

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