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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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wollte, nach Wyoming, woher der Bahnhofsvorsteher Kraske immer große, auf dem Transport beschädigte Pakete bekam. Wenn ein Brief nach Hamburg bestimmt war, nach Heide oder Harrislee, dann stellte ich mir gleich vor, wie es dort aussah, bei manchem Brief fragte ich mich auch, ob der Empfänger wohl lachen oder weinen würde. Postkarten gingen nur wenige bei uns ein, entweder sollten sie Grüße bringen oder einen Besuch ankündigen. Einmal erkannte ich an der Handschrift einen Brief von Ina, der war an sie selbst auf dem Kollerhof adressiert; der Chef schrieb selten, schrieb entweder nach Rellingen oder nach Bremen; Max schickte die meisten Briefe weg, dafür bekam er auch mehr Post als alle anderen.
    Die Wege, die langen Wege, auf die Ewaldsen mich mitnahm, wenn er die Post zustellte in Hollenhusen und in den Baracken und auf den abgelegensten Gehöften. Er ließ mich sein Fahrrad schieben, an dem allerhand Päckchen baumelten und die verschlossene Posttasche, er ging immer nur hinter mir her, bei Regen und Sturm in einem alten Kradmelder-Mantel, bei Frost in einer Lodenjoppe und in der ersten Wärme des Frühjahrs in einer verschossenen Postjacke, und so weit wir auch gingen, nie ging er neben mir. Manchmal hab ich mich gefragt, wie wir wohl von weitem aussahen, wenn wir unter zerfetzten Wolken Feldwege entlangtrotteten oder vor dunklem Himmel die Holle überquerten, dort, wo sie am einsamen Hof des Peitschenmachers Boom vorbeigeht. Zogen wir am Rand des alten Exerzierplatzes, der nun zum Teil Freiland geworden war, zu den Baracken hinüber, dann sahen wir dann und wann in der Ferne den Chef, er winkte immer zuerst, winkte verhalten, und ich mußte denken, daß er mich an seine Seite wünschte.
    Wie verschiedenartig sich die Hollenhusener betrugen, wenn wir ihnen die Post zustellten; einige waren ungläubig, verwirrt, wollten den Brief kaum annehmen, andere rannten ins Haus und mußten gleich lesen, Paulsen wies uns nur an, alles aufs Fensterbrett zu legen, zu dem Stapel ungeöffneter Briefe, und in den Baracken gab es zwei, die uns täglich entgegenkamen, die ganz krank waren vor Erwartung, Frau Schmundt und der hinkende Kapitän. Nie war etwas für sie dabei, obwohl gerade sie einen Brief am dringendsten brauchten und sich nach nichts anderem sehnten.
    Einmal hat Jakob Ewaldsen hohes Fieber bekommen, da hat er mir aus dem Bett den Auftrag gegeben, die Post allein auszutragen, und ich bepackte sein Fahrrad wie an jedem Tag, die Päckchen an die Lenkstange, die Posttasche auf den Gepäckträger; danach ging ich noch einmal zu ihm und hörte mir seine Ermahnungen und Warnungen an. Geldsendungen vertraute er mir nicht an, doch sein Fahrrad, das stellte er mir zur Verfügung, und ich schob allein los auf den bekannten Wegen, wie aufgeregt ich war, wie ehrgeizig und achtsam, manche begrüßten mich als den neuen Postboten, ich bekam ein Glas Saft, eine dicke Scheibe frisch gebackenes Brot, man stellte mir in Aussicht, bald eine Postmütze zu tragen, es war ein heller Tag, und die ersten Stare waren gekommen. Brenzlig wurde es nur bei den Baracken, weil Heiner Walendy und ein paar aus seiner Bande mich gleich entdeckten und verfolgten, sie johlten und lachten mich aus, sie traten gegen das Fahrrad und versuchten, die Posttasche zu erbeuten, und das wäre ihnen zum Schluß auch gelungen, wenn unser alter Nachbar Kukeitis sie nicht vertrieben hätte. Daß ich auf dem Heimweg einige Postsachen übrig hatte, machte mir nichts aus – ich beschloß einfach, es so wie Jakob Ewaldsen zu halten, der alles, was er übrig hatte, in den Korb für den nächsten Tag warf und dazu grummelte: Ihr werdet’s schon früh genug erfahren.
    Das Fieber dauerte, ich durfte meine Botengänge allein machen, ohne Ermahnungen, ohne Warnungen, eine leise Freude kam auf, etliche, denen ich Post brachte, lächelten aufmunternd und waren gut zu mir – traurig war ich immer nur, sobald ich Frau Schmundt und den hinkenden Kapitän ankommen sah: für sie war nie etwas dabei, so heftig ich ihnen auch wünschen half. Um ihnen den Weg zu ersparen, gab ich ihnen schon aus der Ferne ein Zeichen, sichelte ihnen ein langsames Nein zu, das tat ich auch an dem Morgen, an dem mich das Unglück erwartete, auf der Brücke, auf der gemauerten Brücke über die Holle, dort, wo die Gemüsefelder bis ans Wasser gehen.
    Mein Zeichen: nix, leider nix, hatte sie wieder einmal zur Umkehr bewogen, sie gingen enttäuscht zu den Baracken zurück, und ich setzte einen Fuß

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