Léon und Louise: Roman (German Edition)
normalerweise?«
»Mein ganzes Leben lang. Ich mein’s ernst.«
Louise legte die Stirn in Falten und schürzte die Lippen, dann stieß sie durch die Nase Luft aus. »Warte eine Minute. Ich hole meine Zigaretten.«
Sie fuhren nebeneinander hinaus aus der Stadt und westwärts dem Ozean entgegen auf der breiten, schnurgeraden und menschenleeren Straße durch die anmutige Weidelandschaft der Haute Normandie, die seit Menschengedenken ihre Bewohner so großzügig mit allem Lebensnotwendigen versorgt. Der Himmel stand hoch, und der Horizont war weit, und links und rechts flogen fahlgrüne Kriegsweizenfelder vorbei, die spärlich und fleckig wuchsen wie Jünglingsbärte, weil sie von unerfahrenen Frauen- und Kinderhänden angesät worden waren; später im Hügelland, weitab von den Dörfern, gab es abschüssige, jahrelang nicht mehr gepflügte Äcker, auf denen schon Birkenwälder wuchsen.
Louise fuhr schnell, und Léon hielt sich, da er ausgeruht und bei Kräften war, mit Leichtigkeit neben ihr. Sie schauten geradeaus auf die Straße, ihre Beine traten die Pedale rund und gleichmäßig, und weil ihre Gedanken ganz mit Unterwegssein und Weiterkommen und Ankommen beschäftigt waren, redeten sie nicht viel; sie waren glücklich. Gelegentlich warf er Louise aus dem Augenwinkel einen Blick zu, und sie tat, als bemerke sie es nicht. Einmal gaben sie einander in voller Fahrt die Hände und fuhren eine Weile so nebeneinander her, dann wieder betätigte sie aus reinem Glück die Fahrradglocke.
Nachmittags um halb drei erreichten sie ihr Ziel, unvermittelt und früher als erwartet. Der Ozean hatte sein Nahen nicht angekündigt – die Luft war nicht salziger, der Himmel nicht weiter, die Flora nicht karger, der Boden nicht sandiger geworden; irgendwann war die normannische Landschaft mit ihren fetten Äckern und saftigen Wiesen einfach abgebrochen und hatte hundert Meter tiefer am Fuß der Kreidefelsen in der grauen Brandung der Nordsee ihre Fortsetzung gefunden. Sie fuhren vorbei am kanadischen Militärhospital, das sich über den Klippen in einem Meer von weißen Zelten einquartiert hatte, dann dem Fluss entlang hinein nach Le Tréport.
Der Ort war früher ein Fischerdorf gewesen. Seit die Eisenbahn aus der Hauptstadt bis hierher fuhr, verdingten sich die Eingeborenen hauptberuflich den Pariser Sommerfrischlern, die am Fuß der Klippen prächtige Herrenhäuser mit Meeresblick gebaut hatten. Léon und Louise stellten ihre Räder am Quai François 1er ab und spazierten am Hafen entlang. Sie beobachteten die Fischer auf den Booten, die kalte, halbgerauchte Zigaretten in den Mundwinkeln hatten und mit knotigen Händen ihre Netze in Ordnung brachten, Segel ausbesserten, Taue aufrollten und das Deck fegten, und sie musterten die flanierenden Feriengäste mit ihren rosa Bottinen und gleißenden Gamaschen, ihren weißen Matrosenkostümen und durchscheinenden Leinenröcken, ihren Panamahüten, kunstvoll blondierten Haarzöpfen und ihrem zur Schau getragenen Pariser Akzent. Plötzlich fühlte Léon, dass Louise sich bei ihm einhakte; das hatte sie noch nie getan.
»Schau dir die gezuckerten Arschgesichter mit ihren Sonnenschirmen an«, sagte sie. »Solltest du mich jemals mit so einem Schirmchen erwischen, musst du mich erschießen.«
»Nein.«
»Ich befehle es dir.«
»Nein.«
»Ich habe sonst niemanden.«
»Na gut.«
Dann gingen sie wieder schweigend nebeneinander, als ob sie ein lange vertrautes Paar wären, das sich nichts mehr zu beweisen hat. Als sie noch auf ihren Rädern gesessen und in die Pedale getreten hatten, waren sie frei und unbefangen gewesen, weil das Ziel noch in der Zukunft gelegen hatte und die Gegenwart nicht das Eigentliche gewesen war; jetzt gab es keinen Hinderungsgrund und keine Ausflucht mehr – was nun war, zählte. Aber auch jetzt, da sie so über den Hafen spazierten, gab es zwischen ihnen keine Vorsicht und kein Unbehagen, nur die Schwierigkeit, sich in Worten auszudrücken.
Was Léon betraf, so reichte schon die Wärme ihrer Hand an seinem Arm, ihn wunschlos glücklich zu machen. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er so nah an der Seite eines Mädchens spazieren durfte; dass er, wenn er nur den Kopf ein wenig zur Seite neigte, den Duft ihres sonnenbeschienenen Haars schnuppern konnte, war schon fast mehr, als er ertragen konnte.
Sie gingen über die Hafenmole zum Leuchtturm hinaus, der den Eingang des Hafens markierte, setzten sich auf die Mauer und betrachteten die ein- und
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