Léon und Louise: Roman (German Edition)
war vollkommen. Louise aber blieb stehen, machte unschlüssig ein paar Schritte hin und her und steckte sich eine Zigarette an.
»Komm her, mach es dir bequem«, sagte er. »Ich tu dir nichts.«
»Sei du froh, dass ich dir nichts tue.«
»Ist dir kalt?«
»Nein.«
»Möchtest du noch etwas unternehmen, bevor es dunkel wird? Wollen wir einen Spaziergang hinauf zu den Klippen machen?«
»Ich habe Hunger.«
»Ich koche gleich.«
»Soll ich etwas einkaufen?«
»Wir haben alles«, sagte Léon. »Ich muss nur noch die Karotten, die Zwiebeln und den Knoblauch schneiden und das Ganze ein paar Minuten kochen.«
»Soll ich etwas Süßes für den Nachtisch holen? Zwei Eclairs au Chocolat ?«
»Es ist halb zehn«, sagte Léon. »Sollte mich wundern, wenn die Konditorei noch offen wäre.«
»Ich versuch’s.«
Nach einer halben Stunde war sie wieder da. In der Zwischenzeit hatte die Erde sich in die Dunkelheit gedreht. Am Himmel blinkten die ersten Sterne, der Mond war noch nicht aufgegangen. Ein paar schwarze Wolken trieben so niedrig über die Bucht, dass sie vom Blinksignal des Leuchtturms gestreift wurden.
Léon nahm den Topf vom Feuer. Er konnte hinter sich das Knirschen der Kiesel unter Louises Schritten hören. Er drehte sich nicht nach ihr um.
»Das Essen ist fertig. Hast du die Eclairs?«
Sie gab keine Antwort.
Léon rührte im Kochtopf, fischte ein Stück Seegras und eine leere Schale heraus. Ihre Schritte wurden langsamer und verstummten. Dann konnte er fühlen, wie Louise von hinten an ihn herantrat und ihre Hände auf seine Schultern legte. Ihr Haar streifte seinen Hals, ihr Atem strich an seinem rechten Ohr vorbei.
»Du hast mich reingelegt.« Ihre rechte Hand löste sich von seiner Schulter, glitt unter seiner Achsel hindurch und kniff ihn in die Nase. »Du hast es absichtlich eingefädelt und mich vorgeführt wie einen Tanzbären.«
»Dir werden heute Nacht die Finger abfaulen.«
»Stimmt das, was auf dem Zettel steht?«
»Ganz sicher. Auf immer und ewig.«
Léon befreite seine Nase aus Louises Griff, drehte sich um und schaute ihr in die grünen Augen, die im Licht des Feuers leuchteten. Und dann küssten sie sich.
6. KAPITEL
Léon konnte nicht wissen, dass im selben Augenblick, da er vom Nebelhorn eines Dampfers erwachte, eine halbe Million erschöpfte deutsche Soldaten ihre Stiefel schnürte, um zum allerletzten Sturmlauf auf Paris anzusetzen; vielleicht wäre er sonst still an Louise Seite geblieben und hätte sich nicht vom Strand weggerührt, und dann wäre alles anders gekommen. Die Luft war kühl und feucht, der Himmel fahl und diesig. Die Flut war gekommen und wieder gegangen, der Kieselstrand glänzte nass; an den Fusseln der Wolldecken perlten Tautropfen. Hinter der Brandung ragten die Spiere eines gesunkenen Schiffes aus dem Wasser.
Léon schaute hinauf zu den weißen Kreidefelsen, in denen die Möwen in ihren Nestern hockten und ihre Schnäbel im Gefieder wärmten, und weiter hinauf bis zur dünnen Grasnarbe ganz oben, über die der Wind bleigraue Regenwolken trieb. Bis dort gegen Mittag die wärmende Sonne auftauchte, würde es unten am Strand kühl und feucht bleiben. Je länger er hinaufschaute, desto deutlicher hatte er die Empfindung, dass nicht die Wolken über ihn hinwegflogen, sondern er selbst mit dem Strand und den Klippen unter den Wolken hindurchfuhr.
Léon stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete die Umrisse von Louises schmaler Gestalt, die sich unter den Decken im Gleichtakt mit der Brandung hob und senkte. Ihr schwarzer, verstrubbelter Haarschopf sah aus wie Katzenfell. Er löste sich von ihrer Seite und stand auf, um Holz zu holen und das Feuer wieder anzufachen. Als die Flammen hochschlugen, ging er der Flutlinie entlang über den Strand und suchte nach Dingen, die das Meer über Nacht angespült haben mochte. Am östlichen Ende des Strands fand er eine rotweiße Boje, auf dem Rückweg eine zwei Meter lange Planke und vier Jakobsmuscheln. Er legte alles neben die Feuerstelle. Da Louise noch immer schlief, ging er hinunter ans Meer und zog sich bis auf die Unterhose aus.
Das Wasser war kühl. Er watete hinaus, tauchte unter einem Brecher durch und schwamm ein paar Züge. Er schmeckte das Salz auf den Lippen, fühlte das vertraute Brennen in den Augen und drehte sich auf den Rücken, ergab sich dem sanften Schaukeln der Wellen und ließ die Ohren unter Wasser sinken, während zur gleichen Zeit am Chemin des Dames zum ersten Mal seit vielen
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