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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Monaten wieder der süßlich-faulige Bananengeruch des Phosgen-Gases durch die Schützengräben kroch und sich in den Lungenbläschen der Soldaten in Salzsäure verwandelte, Zehntausende von jungen Männern sich buchstäblich die Lunge aus dem Leib kotzten und die Überlebenden, falls die Artillerie sie nicht in Stücke schoss, mit blinden, weit aufgerissenen und entsetzlich verdrehten Augen in Richtung Paris flüchteten, während ihnen die vergiftete und verbrannte Haut in Fetzen vom Gesicht und von den Händen fiel.
    Léon schaukelte in den Wellen, genoss die Schwerelosigkeit und schaute hinauf in den Himmel, an dem noch immer schwarze Wolken hingen. Nach einer Weile ertönte ein Pfiff – das war Louise, die sich aufgesetzt hatte und ihm zuwinkte. Er ließ sich von der nächsten Welle zurück an den Strand tragen, zog Hemd und Hose über den nassen Leib und setzte sich zu ihr ans Feuer. Louise schnitt das Brot vom Vorabend in Scheiben und röstete es über der Glut.
    »Du hast in der Nacht ein bisschen geschnarcht«, sagte sie.
    »Und du hast im Schlaf meinen Namen geflüstert«, sagte er.
    »Du bist ein schlechter Lügner«, sagte sie. »Ein Kaffee wäre jetzt gut.«
    »Es fängt an zu regnen.«
    »Das ist kein Regen«, sagte sie. »Nur eine Wolke, die zu tief fliegt.«
    »Die Wolke wird uns nass machen, wenn wir hierbleiben.«
    Louise rollte die Wolldecken ein, während Léon mit Sand den Kochtopf putzte, dann schoben sie ihre Räder zurück in die Stadt. Am Hafen gab es ein Bistrot, das schon geöffnet hatte und wie Léons Stammkneipe Café du Commerce hieß. Am Tresen standen vier unrasierte Männer in zerknitterten Leinenanzügen, die an ihren Kaffeetassen nippten und sorgfältig aneinander vorbeischauten. Léon und Louise setzten sich an einen Tisch am Fenster und bestellten Milchkaffee.
    »Oh, wir sind in schlechte Gesellschaft geraten.« Louise deutete mit ihrem angebissenen Croissant zum Tresen. »Schau dir die Blödmänner an.«
    »Die Blödmänner können dich hören.«
    »Das macht nichts. Je lauter wir sprechen, desto weniger können sie glauben, dass wir über sie reden. Typische Pariser Blödmänner sind das. Kleine Pariser Blödmänner erster Güte, alle vier.«
    »Du kennst dich da aus?«
    »Der mit der blauen Sonnenbrille, der seine Visage unter dem Hut versteckt, hält sich für mindestens so berühmt wie Caruso oder Zola, dabei heißt er Fournier oder so. Und der mit dem Schnurrbart, der die Börsenzeitung liest und dabei Kummerfalten macht: Der hält sich für Rockefeller, weil er drei Eisenbahnaktien besitzt.«
    »Und die anderen beiden?«
    »Die sind einfach hochwohlgeborene Blödmänner, die keinen grüßen und mit niemandem reden, damit ihnen keiner draufkommt, was für Langweiler sie sind.«
    »Das kann schon mal vorkommen, dass man sich langweilt«, entgegnete Léon. »Ich langweile mich auch gelegentlich. Du nicht?«
    »Das ist etwas anderes. Wenn du oder ich uns langweilen, dann in der Hoffnung, dass sich irgendwann etwas ändern wird. Die dort aber langweilen sich, weil sie immerzu wünschen müssen, dass alles beim Alten bleibt.«
    »Für mich sehen sie alle vier aus wie ganz normale Familienväter. Die haben sich aus dem Haus geschlichen unter dem Vorwand, dass sie zum Bäcker gehen. Jetzt gönnen sie sich eine Viertelstunde Frieden, bevor sie in ihre Villen zurückkehren zu ihren schwierigen Gattinnen und ihren anspruchsvollen Kindern.«
    »Meinst du?«
    »Der mit der blauen Brille hat die ganze Nacht mit seiner Frau gestritten, weil sie ihn nicht mehr liebt und er das bitte nicht wissen möchte. Und der mit der Zeitung fürchtet sich vor den endlos langen Nachmittagen am Strand, an denen er mit seinen Kindern spielen muss und keine Ahnung hat, wie er das anstellen soll.«
    »Wollen wir zu den Fischern gehen?«, fragte Louise. »In die Fischerkneipe?«
    »Wir sind keine Fischer.«
    »Das ist doch egal.«
    »Uns schon, aber den Fischern nicht. Die halten uns für Pariser Blödmänner. Allein schon, weil wir keine Fischer sind.« Léon schob die Gardine zur Seite und schaute aus dem Fenster. »Die nasse Wolke ist weg.«
    »Dann lass uns gehen«, sagte Louise. »Lass uns nach Hause fahren, Léon. Das Meer haben wir jetzt gesehen.«
     
    Durchdrungen von Sonne, Wind und Regenschauern, der frischen Luft des Ozeans und einer Nacht mit wenig Schlaf machten Léon und Louise sich auf den Heimweg. Er führte über dieselben Straßen, durch dieselben Hügel und an denselben Dörfern vorbei,

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