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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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ausfahrenden Dampfschiffe und Segelboote. Als die Sonne sich dem Ozean näherte, kehrten sie ins Städtchen zurück, stiegen die Rue de Paris hinauf und besichtigten die Eglise Saint-Jacques, das Wahrzeichen der Stadt.
    Gleich rechts neben dem Eingang gab es eine Madonnenstatue, vor der sie lange stehen blieben; es war eine einfach gefertigte Gipsfigur mit flachem Gesicht, rot bemalten Wangen und schwarzen Knopfaugen. Ihr Gewand bestand aus blauem, goldbesticktem Samt und war über und über bedeckt mit mehrfach gefalteten und gerollten Zetteln. Sie waren mit Stecknadeln am Kleid befestigt, aber auch zwischen den Fingern und am Kopftuch der Muttergottes steckten Zettel, auf ihrem Heiligenschein und auf ihren Füßen lagen Zettel, sogar zwischen ihren Lippen und in ihren Ohren steckten Zettel in allen Größen und Farben.
    »Was sind das für Zettel?«, fragte Louise.
    »Die Matrosenfrauen bitten die Muttergottes um Schutz für ihre Ehemänner«, sagte Léon. »Ich kenne das von zu Hause. Sie zeichnen ihr Fischerboot auf einen Zettel und hoffen, dass es unter dem Schutz der Heiligen Jungfrau heil wiederkehrt. Andere legen eine Haarlocke ihres schwindsüchtigen Kindes in den Zettel und bitten die Jungfrau, es gesund zu machen. In letzter Zeit hat’s auch Fotos von Soldaten dabei.«
    »Wollen wir ein paar anschauen?«
    »Das bringt Unheil«, sagte Léon. »Das Schiff sinkt. Das Kind stirbt. Der Soldat wird von einer Granate in Stücke gerissen. Und dir faulen die Finger ab, wenn du auch nur einen Zettel anfasst.«
    »Dann lassen wir’s. Wollen wir gehen?«
    »Nur eine Minute noch.« Léon nahm sein Notizbuch und einen Bleistift aus der Brusttasche.
    »Du schreibst einen Zettel?« Louise lachte. »Wie ein Matrosenweib?«
    Léon riss die Seite aus dem Notizbuch, rollte sie zu einem Röhrchen und steckte sie der Muttergottes unter die rechte Achsel. »Lass uns gehen, es ist bald Ebbe. Ich hole uns fürs Abendbrot Muscheln aus den Felsen.«
    In einem Spezereiladen in der Rue de Paris kaufte Léon zwei Baguettes sowie Karotten, Lauch, Zwiebeln, Thymian und eine Flasche Muscadet, dann holten sie ihre Fahrräder und schoben sie im Sonnenuntergang hinunter zum Casino; von dort führte ein breiter Gehweg aus Eichenbohlen über den Kieselstrand an einer langen Reihe weiß getünchter Badehäuschen vorbei. Dahinter erhoben sich stolze Villen mit ringsum laufenden Veranden und weißen Gardinen, die sich in der Meeresbrise leicht und lautlos blähten, erschlafften und blähten, als würden sie atmen.
    Léon hatte vom Leuchtturm aus gesehen, dass sich weit hinter den Villen, in den Felsen am südlichen Ende des Strands, ziemlich viel Treibgut verfangen hatte; das wollte er als Brennholz benutzen. Es war kühl geworden, die letzten Badenden waren heimgekehrt, um sich das Meersalz vom Leib zu spülen und sich fein zu machen fürs Abendessen. Léon und Louise fanden am Fuß der Kreidefelsen zwischen zwei mächtigen Felsblöcken ein trockenes, windgeschütztes Plätzchen. Sie räumten die Kiesel weg, bis der Sand zum Vorschein kam, dann breiteten sie eine Decke aus, und Léon machte Feuer aus trockenem Seetang und Treibholz. Louise saß währenddessen auf der Decke, schlang die Arme um ihre Knie und schaute hinaus aufs orange-lila Wellenspiel des Ozeans, als wäre es das dramatischste Märchenspiel.
    »Lass uns die Miesmuscheln holen«, sagte er, krempelte seine Hose über die Knie und nahm den Kochtopf vom Fahrrad. »Dort vorn in den Felsen, wo die Möwen in den Tümpeln umherstaksen, müsste es welche geben. Die Touristen holen nie welche, die kaufen sie lieber im Laden. Crevetten hat’s da wahrscheinlich auch, aber ohne Netz erwischen wir die nicht.«
    Die Möwen kreischten ärgerlich und breiteten widerwillig ihre Flügel aus, machten ein paar Hüpfer und erhoben sich mit zwei, drei Schlägen in die Luft, ließen sich von den Aufwinden erfassen und segelten an der Felswand hoch hinauf bis zu den grünen Wiesen, um sofort wieder in die Tiefe zu stürzen mit ihren spitzen, bedrohlich abwärtsgerichteten Schnäbeln, kurz vor dem Aufprall wieder in Gleitflug überzugehen und wiederum in die Höhe zu segeln.
    In den Tümpeln gab es reichlich Muscheln, der Topf war rasch voll. Léon nahm zwei Messer aus der Tasche und zeigte Louise, wie man Algen und Bärte von den Muscheln schabte. Dann kehrten sie zurück an ihren Platz zwischen den Felsbrocken. Er ließ sich auf die Wolldecke fallen und seufzte; dieser Tag war perfekt, sein Glück

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